Nach ihrer Konversion zum Katholizismus begann Edith Stein, sich mit der Philosophie des Thomas von Aquin auseinanderzusetzen, auch und gerade in Konfrontation mit der Phänomenologie Edmund Husserls. Die These, die ich hier auszuführen gedenke, lautet: Steins Interesse an der Thomasischen Philosophie ergab sich nicht direkt aus ihrer phänomenologischen Arbeit. Ihrem eigenen Ansatz lag da schon die Beschäftigung mit dem Denken Augustinus' wesentlich näher.
Einige Zeit vor ihrer Konversion, 1917, hatte Edith Stein an Roman Ingarden geschrieben: „Vielleicht lesen wir zusammen Augustin, wenn Sie wiederkommen.”
[1] So sehr Stein sich auch von bestimmten Ideen des Aquinaten angesprochen fühlte, ist sie doch nie Thomistin geworden. Der Schlüssel zur Antwort auf die Frage, welcher der beiden Denker den größeren Einfluss auf sie ausübte, liegt, wie ich meine, im Widerstreit, den die Konvertitin mit sich selbst führte, im Streit zwischen dem phänomenologischen Realismus und dem Idealismus. Es ist mittlerweile usus, die Schriften Edith Steins in phänomenologische, scholastisch-thomistische und mystische einzuteilen. Doch diese Einteilung ist alles andere als präzis und kann fälschlicherweise suggerieren, Edith Stein wäre nur auf dem ersten Abschnitt ihres philosophischen Weges Phänomenologin gewesen. Phänomenologin blieb sie jedoch bis zu ihrem Lebensende, wobei sie ihr Verständnis der phänomenologischen Methode immer wieder modifizierte und unaufhörlich mit sich selbst um eine Position zwischen Realismus und Idealismus rang.
Steins Treue zur Methode Husserls wird vor allem in ihrem Verständnis von verantwortungsvoller Wahrheitssuche deutlich. Die Phänomenologie galt ihr als “Wesensanalyse des reinen Bewusstseins”. Besonders wichtig war ihr die Ausrichtung auf “die Dinge an sich” und die Intentionalität jeglichen Bewusstseins. “Ziel der Phänomenologie”, so Stein in ihrer Doktorarbeit, “ist Klärung und damit letzte Begründung aller Erkenntnis. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schaltet sie aus ihren Betrachtungen alles aus, was irgendwie 'bezweifelbar' ist, was sich irgend beseitigen lässt. Sie macht zunächst keinen Gebrauch von irgendwelchen Resultaten irgendeiner Wissenschaft.”
[2] Ähnlich wie Dietrich von Hildebrand fasste sie den Begriff der Phänomenologie so weit, dass diese sich als - wenngleich unreflektierte - Methode der großen Philosophen aller Jahrhunderte darstellen ließ.
[3] Die Phänomenologie war, Stein zufolge, mit dem Wesen philosophischen Denkens überhaupt gleichzusetzen. Ebendeshalb musste sie zugleich als Methode, als strenge Wissenschaft bestehen.
Das grundlegendste Prinzip der phänomenologischen Methode ist, folgt man Steins Ausführung in
Der Aufbau der menschlichen Person, der Zugriff auf die Dinge an sich: “Nicht Theorien über die Dinge befragen; möglichst alles ausschalten, was man gehört, gelesen (...) hat, sondern mit unbefangenem Blick an sie herantreten.”
[4] Darin liege jedoch kein Empirismus, denn “das zweite Prinzip lautet: den Blick auf das Wesentliche richten”.
[5] In diesem Sinne erinnerte Stein auch in ihrer
Einführung in die Philosophie an die Husserlsche Unterscheidung zwischen Tatsachenwissenschaft und Wesenswissenschaft.
[6] In
Der Aufbau der menschlichen Person heißt es hierzu, die Phänomenologie habe es nicht mit Tatsachen, sondern mit Wesensbestimmungen zu tun: “Der Akt, in dem das Wesen erfasst wird, ist eine
geistige Anschauung, die Husserl
Intuition genannt hat.”
[7] Stein wandte aber nicht nur die eidetische Reduktion des frühen Husserl, sondern auch die transzendentale Reduktion an. Die Phänomenologie als strenge Wissenschaft könne eben weder auf natürlicher Erfahrung noch auf deren Verlängerung durch die Methoden der Naturwissenschaften beruhen, da beides mannigfaltig interpretierbar bleibe: “So verfällt denn der Ausschaltung oder Reduktion die gesamte uns umgebende Welt (...). Was kann noch übrig bleiben, wenn alles gestrichen ist, die ganze Welt und das sie erlebende Subjekt selbst? In Wahrheit bleibt noch ein unendliches Feld reiner Forschung übrig”
[8], und zwar das Feld des Bewusstseins, “mein Erleben des Dinges (das wahrnehmende, erinnernde oder sonst wie geartete Erfassen)”.
[9] In einem solchen Sinne war die Phänomenologie für Stein die “Wissenschaft vom reinen Bewusstsein”.
[10]
Diese These wirft allerdings die Frage auf, wie Steins Phänomenologie zu charakterisieren sei. Sie selbst hielt in ihren Erinnerungen
Aus dem Leben einer jüdischen Familie fest: „Alle jungen Phänomenologen waren entschiedene Realisten. Die 'Ideen' aber enthielten einige Wendungen, die ganz danach klangen, als wollte ihr Meister zum Idealismus zurücklenken. Was er uns mündlich zur Deutung sagte, konnte die Bedenken nicht beschwichtigen. Es war der Anfang jener Entwicklung, die Husserl mehr und mehr dahin führte, in dem, was er 'transzendentalen Idealismus' nannte (...), den eigentlichen Kern seiner Philosophie zu sehen...“
[11] Stein gehörte freilich nicht zu den “jungen Phänomenologen”, denn als sie sich Husserl anschloss, hatte dieser bereits seine transzendentale Wende vollzogen. Daher konnte sie sich in ihrem Brief an Roman Ingarden vom 30.09.1922 auf die Einteilung der Phänomenologen in “Transzendentalphänomenologen” und “Reinachsche Phänomenologen” beziehen,
[12] wobei sie mit den letzteren die realistisch bzw. eidetisch Orientierten meinte.
In vielerlei Hinsicht identifizierte sich Stein mit Husserls Göttinger Programm, dh. mit seiner transzendentalen Phänomenologie. Im Vorwort ihrer Dissertation
Zum Problem der Einfühlung betonte sie, dass “Problemstellung und Methode meiner Arbeit ganz aus Anregungen hervorgewachsen [sind], die ich von Herrn Professor Husserl empfing”.
[13] In weiterer Folge berief sie sich auf Husserls Begriffe des „Erlebnisstroms“, der Retention und der Protention, auf die “innere Wahrnehmung”.
[14] Husserl habe in der Philosophie das Wesentliche und Notwendige wiederentdeckt, insbesondere “die Domäne des reinen Bewusstseins”, die “wohl niemand vor ihm erkannt, geschweige denn herausgearbeitet” habe.
[15] Für eine bleibende Leistung Husserls erachtete Stein auch, „dass er die Skepsis in all ihren zeitgenössischen Erscheinungsformen verfolgt und energisch bekämpft hat“
[16]. Sie nahm ihn gegen den Vorwurf in Schutz, seine Methode der phänomenologischen Anschauung sei eine Art säkularer Aufklärung: "Die Phänomenologie setzt sich nicht an den Schreibtisch, um auf eine mystische Erleuchtung zu warten. Hier geht es um die mühevolle intellektuelle Erarbeitung jener Einblicke."
[17]. Darüber hinaus verdankte sie dem Meister so manches, was ihr bei der Entdeckung ihres religiösen Glaubens auch persönlich wichtig wurde: “Von
Husserl muss man sagen, dass die Art, wie er auf die Sachen selbst hinlenkte und dazu erzog, sie in aller Schärfe geistig ins Auge zu fassen und nüchtern, treu und gewissenhaft zu beschreiben, von Willkür und Hoffart im Erkennen befreite, zu einer
schlichten, sachgehorsamen und darin
demütigen Erkenntnishaltung hinführte. Sie führte auch zu einer
Befreiung von Vorurteilen, zu einer
unbefangenen Bereitschaft, Einsichten entgegenzunehmen. Und diese Einstellung (...) hat viele von uns auch frei und unbefangen gemacht für die katholische Wahrheit (...).”
[18]. In Husserls
Logischen Untersuchungen erkannte sie eine “Rückwendung von der kritizistischen Denkweise der modernen Philosophie zu den großen Traditionen der
philosophia perennis”
[19], und vermerkte an anderer Stelle aus globaler Sicht: “Husserl (...) [hatte], ohne selbst die Theologie und Philosophie des Mittelalters zu studieren, eine gewisse lebendige Verbindung mit der großen Überlieferung der
philosophia perennis.”
[20] Stein war überzeugt, dass Husserl in den
Logischen Untersuchungen mit der Skepsis in all ihren Formen (Psychologismus, Historizismus) gebrochen hatte. Der zweite Band schien ihr zwar zunächst nur formale und materiale Aspekte der Ontologie zu untersuchen.
[21] Doch war, so Stein, hier bereits eine neue Richtung vorgegeben, die sich nach Husserls Auseinandersetzung mit Descartes explizit abzeichnen sollte: die Suche nach einem neuen Ausgangspunkt für die Philosophie als strenger Wissenschaft. Husserl ging nun über Descartes' Position hinaus. Als zu untersuchendes Terrain galt ihm nicht mehr die
substantia cogitans (als weltimmanentes psychisches Ich), sondern das über die Welt hinausgehende “transzendentale Ich”. Vor diesem Hintergrund betonte Stein immer wieder, dass die
philosophia prima und die Transzendentalphänomenologie gleichzusetzen seien.
[22]
Welches Verhältnis entwickelte Stein aber zum phänomenologischem Idealismus Husserls? Zunächst, in einem Brief an Roman Ingarden vom 3.2.1917, spielte sie mit dem Gedanken, den Idealismus zu verwerfen: „Übrigens hat sich im Anschluss daran ganz plötzlich bei mir ein Durchbruch vollzogen, wonach ich mir einbilde, so ziemlich zu wissen, was Konstitution ist – aber unter Bruch mit dem Idealismus! Eine absolut existierende physikalische Natur einerseits, eine Subjektivität bestimmter Struktur andererseits scheinen mir vorausgesetzt, damit sich eine anschauliche Natur konstituieren kann.”
[23] Doch bereits ein Jahr später, am 24.4.1918, hielt sie brieflich fest: “Ich selbst habe mich zum Idealismus bekehrt. Und glaube, er lässt sich so verstehen, dass er auch metaphysisch befriedigt.”
[24] Im letzten Satz zeichnet sich, wie ich meine, eine Unterscheidung zwischen metaphysischem und epistemologischem Idealismus ab. Der metaphysische Idealismus erkennt dem Bewusstsein den Primat vor dem Sein zu: Nicht das Sein existiert real, sondern das Bewusstsein. Dieser Standpunkt versteht sich als Gegenentwurf zum Realismus. Anders jedoch als der metaphysische stellt sich der epistemologische Idealismus nicht gegen den Realismus als solchen. Vielmehr beschränkt er sich auf die These, dass aus Sicht der Erkenntnis eben das Bewusstsein das Erste ist; anders gesagt: Das Bewusstseinsprimat des epistemologischen Idealismus ist keineswegs darauf ausgelegt, den Seinsrealismus aufheben. So gelangte Edith Stein zwei Jahre nach dem soeben zitierten Brief in ihrer
Einführung in die Philosophie (1920) dazu, zwei Strukturelemente des Erkenntnisaktes voneinander zu unterscheiden: Bewusstsein und Wirklichkeit. Anschließend versuchte sie, zwei Fragen zu beantworten: (1) Ist ein Bewusstsein denkbar, dem keinerlei Natur entspräche? (2) Ist eine Natur denkbar, dem keinerlei Bewusstsein entspräche?
[25] Diese beiden Fragen konstituieren ja die Erkenntnis in ihrem Kern. Stein legte zunächst Husserls Standpunkt dar und schloss, dass jegliches Seiendes erfahrbar sein müsse. In weiterer Folge gelangte sie zur Ansicht, dass der Konflikt zwischen Idealismus und Realismus mit den verfügbaren Erkenntnismethoden nicht zu lösen sei. Am 2.10.1927 schrieb sie an Ingarden: „Es scheint mir, dass diese Frage überhaupt nicht auf philosophischem Wege entscheidbar ist, sondern immer schon entschieden ist, wenn jemand anfängt zu philosophieren”
[26]. Das “immer schon” verweist auf den katholischen Glauben, den sie 1922 mit ihrer Taufe angenommen hatte.
Diese Vorgänge erwecken den Anschein, als sei Edith Stein letztlich zu einem realistischen Standpunkt gelangt. Freilich, den Husserlschen Idealismus hatte sie in Frage gestellt, besonders deutlich 1931 in
Potenz und Akt: Man könne eben nicht vom Idealen zum Realen voranschreiten, wenn man nur vom Idealen ausgeht.
[27] Der Unterschied zwischen realem und idealem Sein in ihrem Verhältnis zum Bewusstsein liege darin, dass das reale Sein gewissermaßen vom schöpferischen Geist getrennt worden sei und daher den Gegenpol zum idealen Sein bilde. Das ideale Sein koexistiere mit dem schöpferischen Geist und gehöre ihm zu, heißt es schließlich.
[28]
Was war geschehen? In
Potenz und Akt sowie in
Endliches und ewiges Sein hatte Stein den Übergang von der Phänomenologie zur Ontologie vollzogen. Allen Ankündigungen zum Trotz gab sie aber in
Potenz und Akt die transzendentale Sichtweise keineswegs restlos auf. Die Philosophie, so die angehende Ontologin, nehme ihren Ausgang nach wie vor in der Sphäre der Immanenz: “Das Immanente [ist] das für uns erste, durch das hindurch wir zu allem andern kommen müssen.”
[29] Der Übergang von der immanenten Sphäre des Bewusstseins zum transzendenten Seienden sei aber nur in der transzendentalen Sphäre möglich, und “mit Transzendentalphilosophie ist das gemeint, was Husserl 'transzendentale Phänomenologie' nennt, d.h. eine Beschreibung der Bewusstseinsstrukturen, in denen und durch die sich von der Immanenz her eine transzendente Welt aufbaut. (Die metaphysische Seite des Problems ist bezeichnet durch die Frage, ob diese Welt eine auf das konstituierende Bewusstsein relative, durch seine konstituierenden Akte bedingte und gehaltene Welt ist oder ob der Weg von der immanenten zur transzendenten Sphäre ein Übergang in eine dem Bewusstsein gegenüber autonome und unabhängige Welt sei.)”
[30] Der Weg zum Sein führt also über die innere Erfahrung des Bewusstseins. Diese Sphäre der Bewusstseinsimmanenz hatte Edith Stein im Streit zwischen Idealismus und Realismus entdeckt. Anders als Husserl verstand sie die transzendentale Phänomenologie als einen Bereich des Übergangs zur Ontologie. Und ebendaher rührt der Anschein, die immanente Sphäre verlöre für Edith Stein im Laufe der Zeit an Bedeutung: ein falscher Anschein. In
Potenz und Akt definierte sie nämlich zwei mögliche Ausgangspunkte philosophischen Denkens: einen transzendentalphilosophischen und einen formalontologischen
[31], und urteilte: Während Augustinus die innere Welt zum (transzendentalphilosophischen) Ausgangspunkt gemacht habe, habe sich Thomas für der äußere Welt (somit die formalontologische Option) entschieden.
[32] Der Streit zwischen Idealismus und Realismus lässt also dem Philosophen zwei Wege offen. Für welchen entschied sich Edith Stein?
In
Endliches und ewiges Sein ging sie vom Sein aus. Schlug sie damit tatsächlich, Thomas folgend, den formalontologischen Weg ein? Im Vorwort schrieb sie ein wenig geheimnisvoll: “Vielleicht wird angesichts mancher Ergebnisse dieses Buches die Frage auftauchen, warum sich die Verfasserin nicht statt an Aristoteles und Thomas an Plato, Augustinus und Duns Scotus angeschlossen habe. Darauf ist nur zu antworten, dass sie eben tatsächlich von Thomas und Aristoteles ausgegangen ist.”
[33] Eine überraschende Aussage Steins. Ohne jede Begründung hatte sie sich für Thomas entschieden, als unterliege dies keiner Diskussion, als wollte sie sagen: “Fragt besser nicht nach!”. Das heißt: Stein gelangte zum Thomismus nicht durch die Weiterentwicklung ihrer Phänomenologie, sondern schlicht aufgrund ihrer Konversion zum Katholizismus. Zwar verwies sie in einem Husserl gewidmeten Artikel zu dessen 70. Geburtstag - der Titel lautet:
Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas von Aquino - auf gewisse Übereinstimmungen zwischen beiden Philosophen. Dennoch suchte sie hier, wie Erich Przywara meint, eher die Konfrontation von Phänomenologie und klassischer Scholastik als deren Synthese.
[34] In
Endliches und ewiges Sein hielt sie wiederum ausdrücklich fest: „Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, thomistische und phänomenologische Erkenntnislehre einander gegenüberzustellen.“
[35] Die Beschäftigung mit dem realen Sein hatte sie nicht davon abgebracht, als Phänomenologin vorzugehen, wo die wesenhaften Aspekte des Seins zu analysieren waren. Diese phänomenologische Perspektive wird von Erich Przywara wie folgt umrissen: „Edith Steins Thomas-Analyse muss als (...) Transponierung der Thomasischen Wahrnehmung des realen Seins auf Husserls Begriff der idealen Wesenheit erscheinen.“
[36] Dass Stein bis an ihr Lebensende Phänomenologin blieb, ist auch die Ansicht Puttgardens, der über
Endliches und ewiges Sein urteilte: „Diese Arbeit bleibt einem anderen Stil verpflichtet. (...) Edith Stein ist in ihr weiterhin Phänomenologin.“
[37]
In
Endliches und ewiges Sein führte Steins “Zugangsweg” über das Seinsproblem, genauer gesagt: über “eine erste vorläufige Darstellung der
Akt- und
Potenz-Lehre des hl.
Thomas von Aquino”.
[38] Doch die eigentliche Aufmerksamkeit war auf den Sinn des Seins gerichtet.
[39] Mittels der Unterscheidung von aktuellem und potentiellem Sein drang die Autorin zur Idee des zeitlichen Seins vor: “Das Seiende, das zeitlich ist, besitzt sein Sein nicht, sondern wird immer aufs Neue damit
beschenkt”.
[40] Das andere, das “wahrhaft unendliche” Seiende, der “Herr des Seins”, wird als “ewiges Sein” angesprochen; gemeint ist reines Seiendes (
actus purus), in welchem die Unterscheidung zwischen Sein und Wesen fehlt.
[41] Reines Seiendes ist der menschlichen Erkenntnis nur auf dem Wege der Analogie des Seins (
analogia entis) zugänglich, die von Stein abgewandelt als Analogie der Person (
analogia personae) verstanden wurde, dh. als die zum personhaften Gott aufsteigende Erkenntnisbewegung.
Das zeitlose Sein der Wesenheiten sei nun, wie Stein argumentierte, mit Sinn ausgestattet. Daher beschreibe die
Wesenheit zugleich eine bestimmte Seinsart, nämlich jene der Unveränderlichkeit und Idealität. Ph. Secretan hält zu den “Steinschen Wesenheiten” fest: “Sie sind zwar Geschöpfe, doch ihre intelligible Ordnung legt den göttlichen Logos offen. Sie nehmen den Raum zwischen dem Ewigen und dem Endlichen ein. Ihr potentielles Sein steht unter der Dominanz des reinen Aktes und harrt seiner Aktualisierung in der Welt der Dinge und im Fluss der realen
Erlebnisse. Ihr Möglichkeitsstatus reißt sie keineswegs aus dem Sein. Er zeigt sich in ihrer Partikularisierung, durch die sie den endlichen Geschöpfen zugeordnet werden. In ihrem Idealitäts- und Universalitätsstatus werden sie aber den göttlichen Ideen zugeordnet.”
[42]
In der gesamten Arbeit über
Endliches und ewiges Sein beschäftigte sich Stein zwar mit Thomas von Aquin, doch im vorletzten, siebten Kapitel wandte sie sich der augustinischen Schrift
De Trinitate zu, um die Erfahrung der inneren Welt einmal mehr zu problematisieren. Mit der “inneren Welt” sei, Stein zufolge, “jetzt nicht allein das bewusste Ichleben gemeint - das gegenwärtige und das von ihm her im Rückwärts- und Vorwärtsgreifen zugängliche vergangene und künftige, die Einheit des
Erlebnisstromes...”.
[43] Stein berief sich hier zwar auf die innere Wahrnehmung im Sinne Husserls, doch was sie inhaltlich sagte, gemahnt an die augustinische Analyse der inneren Zeitwahrnehmung. Von der Idee der inneren Wahrnehmung ließ sich Stein letztlich zum inneren Leben des Geistigen leiten, zu einem Leben, welches in sich selbst das Bild Gottes entdeckt.
Der Weg über das Innere, der Weg der Bewusstseinsimmanenz ist bei Stein sozusagen der Königsweg zur Gotteserfahrung geworden. Diese Entscheidung zeichnete sich im 7. Kapitel von
Endliches und ewiges Sein ab, genauer: in Paragraf 9, der vom
Gottesbild im Menschen handelt. Hier rührte Stein nicht nur an das Problem der Selbsterkenntnis, sondern auch an den Begriff des “Inneren” bzw. der “Tiefe” der Seele - in kontrastiver Gegenüberstellung zur Seelen-“Oberfläche”. In der Tiefe erlebe die Seele die höchsten Werte und begegne Gott. Hier herrschten keine irrationalen Mächte, sondern die “Gedanken des Herzens”. Steins Werk endete mit dem Übergang zur inneren mystischen Erfahrung. Dass die hier offengelegte “Tiefe der Seele” von Augustinus herrührte, belegen u.a. die folgenden beiden Zitate, die Stein anführte. In seinem Kommentar
In Joannem hatte Augustin gesagt: “... Suchst du wohl einen hohen Ort, einen heiligen Ort, so biete dich innen als Tempel Gottes. 'Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.' Im Tempel willst du beten? In dir bete.”
[44] Und in den
Soliloquia sagte er: “... Ruf mich zurück aus Irrsalen: Du sei Führer - und ich gehe zurück in mich und in Dich”.
[45] Wie für den hl. Augustinus, so wurde auch für Edith Stein das Verlangen, die Seele und Gott zu erkennen, zum wichtigsten Verlangen. Die angestrebte Erkenntnis spiegele, so Stein, mit ihren drei Dimensionen: Verstand, Willen und Gedächtnis die Trinität im menschlichen Bewusstsein wider. Unermesslich wichtig erschien ihr hierbei das Gedächtnis. In den Erwägungen zum Inneren der Seele hielt Stein denn auch in einer Fußnote fest: “Nach thomistischer Auffassung wird das Gedächtnis nicht als eine eigene Grundkraft neben Verstand und Willen angesehen, sondern als sinnliches und geistiges - dem niederen und höheren Erkenntnisvermögen zugeordnet. In der Tat wäre ja ohne die Leistung des Gedächtnisses keine Erkenntnis möglich. Dagegen finden wir in den Schriften unsrer heiligen Mutter
Theresia und des heiligen Vaters
Johannes vom Kreuz die Dreiteilung: Verstand, Gedächtnis, Willen, wie sie
Augustinus durchgeführt hatte (De Trinitate X).”
[46] Wesentlich ist hier zunächst die Feststellung, dass die Thomisten dem Gedächtnis eine weniger privilegierte Rolle zuschreiben, als dies Augustinus tat, denn sie verweigern der inneren Gotteserkenntnis den Primat. Genau so wesentlich ist allerdings, dass Stein die augustinischen Quellen jener Mystiker direkt anspricht, die ihr am besonders am Herzen lagen: Theresa von Ávila und Johannes vom Kreuz.
Steins Ansichten zur religiösen Gotteserfahrung gelangten zur Reife, als ihr Denken in die letzte, mystische Phase eintrat. In
Wege zur Gotteserkenntnis entstand eine phänomenologische Methode in Nachahmung der Stufentheorie des Dionysios Areopagita. Bei Dionysios war die niederste Stufe theologischen Wissens die symbolische Theologie, die die Welt als Theophanie und Abfolge von Symbolen betrachtet. Doch Stein wählte den Weg der höchsten Erkenntnisstufe, der mystischen Theologie. In einer Fußnote kommentiert sie: "Auf der Suche nach diesem 'etwas' gingen wir mit Dionysios von in der inneren Wahrnehmung und Erfahrung aus. Objektiv betrachtet, ist die unmittelbare innere Erfahrung des eigenen Seins und seiner Bedingtheit mindestens ebenso wichtig. Diesen inneren Weg zu Gott, der bei Augustinus dominiert, haben wir in
Das endliche und das ewige Sein eingehend besprochen."
[47] Diese Fußnote enthält Wesentliches, denn Stein wies hier nicht nur auf den objektiven Charakter des inneren Erlebens hin, sondern darüber hinaus auf den inneren Weg zu Gott, der bei Augustinus dominiert. Der Sperrdruck der Phrase "innerer Weg zu Gott, der bei Augustinus dominiert", verdient besondere Aufmerksamkeit.
In der
Seelenburg wiederum knüpfte Stein an die
Innere Burg der Theresa von Ávila an. Und auf die Ansichten Wilhelm Diltheys, Franz von Brentanos, Edmund Husserls und insbesondere Alexander Pfänders zum Thema Geist und Seele berief sich Stein, als sie den “Mittelpunkt der Seele” beschrieb. Dieser sei der “Ort, von dem aus die Stimme des Gewissens sich vernehmen lässt, und der Ort der freien persönlichen Entscheidung”.
[48]
Schließlich sei weiteres augustinisches Motiv erwähnt, das sich - wenn auch indirekt - bereits in den früheren Schriften niedergeschlagen hatte. In ihrer Dissertation
Zum Problem der Einfühlung, im Kapitel
Erinnerung, Erwartung, Phantasie und Einfühlung, gelangte Stein zur Feststellung: “So erfasst der Mensch das Seelenleben seines Mitmenschen, so erfasst er aber auch als Gläubiger die Liebe, den Zorn, das Gebot seines Gottes, und nicht anders vermag Gott sein Leben zu erfassen.”
[49] In der
Abhandlung: Psychische Kausalität führte sie die Idee des “Ruhens in Gott” ein: “Es gibt einen Zustand des Ruhens in Gott, der völligen Entspannung aller geistigen Tätigkeit, in dem man keinerlei Pläne macht, keine Entschlüsse fasst und erst recht nicht handelt...”
[50] In der
Einführung in die Philosophie verlieh Stein dieser Idee die Form einer Erfahrung von Sicherheit. Wie nahe kommt dieser Zustand des Ruhens und der Sicherheit dem berühmten Wort des Augustinus, dass das Herzen unruhevoll ist, solange es nicht in Gott zur Ruhe kommt?
Kurz nach ihrer Konversion warf Stein der Husserlschen Phänomenologie vor, sie stünde in schärfstem Widerspruch zur katholischen Philosophie: Diese sei in letzter Instanz theozentrisch, während die transzendentale Phänomenologie egozentrisch bleibe.
[51] Die Konvertitin stellte dem Husserlschen “transzendentalen Ich” die “Tiefe der Seele” gegenüber: “Husserl hat das Subjekt der Akte, das, wovon alles Bewusstseinsleben ausstrahlt, als '
reines Ich' bezeichnet und in dieser Weise als ein punktuelles charakterisiert. Es ist ausdehnungslos, qualitätslos, substanzlos. - Wenn wir aber an das denken, was 'auf dem Grund der Seele liegt', dann kommen wir mit dieser Beschreibung nicht aus.”
[52] Stein distanzierte sich zudem von der Art und Weise, wie Husserl, insbesondere in den
Cartesianischen Meditationen, den Begriff der Konstitution verstanden hatte: Hier sei, wie sie meinte, “für Gott (...) kein Raum”.
[53]
Wird dieses strenge Urteil Steins dem Denken des Meisters gerecht? Anders als viele Phänomenologen - etwa Scheler, Stein selbst, Hildebrand, Heidegger, Lévinas, Walter - hat Husserl sich ja mit der Problematik Religion und Gott in keinem einzigen Artikel auseinandergesetzt. Häufig bezeichnete er aber das Gottesproblem als das wichtigste philosophische Problem überhaupt, etwa im Gespräch mit seiner Schülerin Schwester Adelgundis Jaegerschmid: „Das menschliche Leben ist nichts anderes als ein Weg zu Gott. Ich bemühe mich, ohne Beweise, Methoden und theologischen Unterbau zu diesem Ziel zu gelangen, sozusagen ohne Gott zu Gott vorzudringen. In meiner Gelehrtenexistenz muss ich aber Gott in gewisser Weise eliminieren, um den Weg zu ihn für all jene zu bereiten, die - anders als Sie, Schwester - keine Glaubenssicherheit von ihrer Kirche erhalten.“
[54] Dieses Bild wird auch von Ingarden bestätigt: “Letztendlich suchte Husserl einen Weg zu Gott als dem höchsten und absoluten Verstand, in welchem er seine eigene Vervollkommnung und endgültigen Frieden zu finden hoffte und auf den er eine Teleologie des reinen Bewusstseins aufbauen könne.”
[55]
Husserl wollte bei der Untersuchung des Gottesproblems als des wichtigsten Problems der Philosophie auf dem Boden der philosophischen Vernunft bleiben. So verbat er es sich, mit theistischen Denkern (im Sinne des christlichen Theismus) in eine Reihe gestellt zu werden. Als er am 15. Juli 1932 Pater Erich Przywara für dessen Buch
Analogia entis. Metaphysik dankte, stellte er dessen theologisches Philosophieren seinem eigenen atheologischen und, wie er zugleich sagte, wissenschaftlichen gegenüber. In Husserls Verhältnis zum Gottesproblem müssen zwei wesentliche Problembereiche berücksichtigt werden. Zum einen ist dies die Trennung von Philosophie und Theologie, von Vernunft- und Glaubenserkenntnis, jene Trennung also, die Stein dem Meister vorwarf. Zum anderen handelt es sich um die Suche nach Wahrheit als Ziel der Philosophie - für Husserl stets oberstes Ziel. Sein Leben lang suchte er nach Erkenntnissicherheit, strebte unaufhörlich nach Wahrheit. Im Gespräch mit Jaegerschmid 1935 sagte er: „Was der Religion die Reinheit des Herzens, das ist der Philosophie die Aufrichtigkeit des Denkens. Mein ganzes Leben habe ich um diese Aufrichtigkeit Kämpfe, ja Kriege geführt und, wenn die anderen sich längst zufrieden gaben, mich immer von neuem gefragt und geprüft, ob da nicht tief im Innern trotzdem doch noch ein Schatten von Unehrlichkeit ist. Meine gesamte Arbeit beruht auch heute noch auf nichts anderem als unaufhörlicher Prüfung und Sichtung, denn alles, was ich herausfinde, ist und bleibt relativ. Der Mensch muss den Mut aufbringen, das, was er gestern noch für die Wahrheit gehalten hat und heute als Fehler ansieht, eben auch als Fehler anzuerkennen und öffentlich zu bezeichnen.“
[56]. War diese unaufhörliche Wahrheitssuche zugleich Husserls Weg zu Gott?
Stein war mit ihrer Kritik im Unrecht. Wenn die Phänomenologie Husserls egozentrisch genannt werden konnte, so doch nur hinsichtlich des Ausgangspunkts und der methodischen Annahmen. Im Hinblick auf ihr Ziel war sie theozentrisch: Dieses Ziel war nämlich Gott. Die Husserlschen
Ideen zu einer reinen Phänomenologie folgten dem Leitmotiv einer “Wissenschaft von den Phänomenen”. Um die Erkenntnis vor Zweifel zu schützen, suchte Husserl einen absoluten Ausgangspunkt in der Bewusstseinsimmanenz. Gegen den Zweifel sei nur eine solche Erkenntnis gewappnet, die zu absoluter Einheit mit ihrem Gegenstand gefunden habe, sagte Husserl, wohl wissend, dass die Phänomenologie keine Mystik ist. Deshalb reduzierte er Gott. Der § 58 der
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie ist betitelt:
Die Transzendenz Gottes ausgeschaltet. An anderer Stelle schrieb Husserl: „Mit anderen Worten, da ein mundaner Gott evident unmöglich ist, und da andererseits die Immanenz Gottes im absoluten Bewusstsein nicht als Immanenz im Sinne des Seins als Erlebnis gefasst werden kann (was nicht minder widersinnig wäre), so muss es im absoluten Bewusstseinsstrom und seinen Unendlichkeiten andere Weisen der Bekundung von Transzendenzen geben, als die Konstitution von dinglichen Realitäten als Einheiten einstimmiger Erscheinung ist...“
[57] Das heißt: Wäre Gott immanent, so gehörte er prinzipiell in den Bereich der Noesis. Wäre er transzendent, so stellte er ein Noema dar. Gott ist nun aber weder mit dem Bewusstsein noch mit dem Gegenständlichen (mit den Erscheinungen) identisch. Gelang Husserl tatsächlich die Entdeckung der „anderen Weisen der Bekundung von Transzendenzen“?
Einen sachdienlichen Hinweis liefert der Abschluss der
Cartesianischen Meditationen. Die Einklammerung der Welt führt zur Wahrheit, und zwar über die innere Erfahrung: „Das Delphische Wort gnwqi seauton hat eine neue Bedeutung gewonnen. Positive Wissenschaft ist Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muss erst die Welt durch epoch verlieren, um sie in universaler Selbstbestimmung wiederzugewinnen“, und an eben dieser Stelle berief sich Husserl auf Augustinus: „
Noli foras ire, sagt Augustin
, in te redi, in interiore homine habitat veritas”
[58]. Die Wahrheit wohnt im Innern des Menschen. Die Husserlsche Phänomenologie, inspiriert von der cartesianischen Wendung hin zum Bewusstsein, beruht letztliche auf dem augustinischen Denkschema.
Während der Arbeit an
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie verfasste Husserl Manuskripte, in denen die Idee des Absoluten als einer absolut idealen Idee, eines Fixpunktes, auftaucht.
[59] Und bereits 1911, in den
Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, bezeichnete Husserl Gott “als Idee, als Idee des allervollkommensten Seins; als Idee des allervollkommensten Lebens, in dem sich die allervollkommenste ‘Welt’ konstituiert, das aus sich die allervolkommenste Geisterwelt in Bezug auf eine allervollkommenste Natur schöpferisch entwickelt”.
[60]
Über Husserls Gottesauffassung entstand letztens die wichtige Arbeit von Lee Chun Lo.
[61] Zwar erwähnt die Autorin die augustinischen Inspirationsquellen Husserls mit keinem Wort. Doch in Husserls Notizen werden ebenjene Dimensionen des Bewusstseins sichtbar, die Augustinus beschrieb: Verstand bzw. Vernunft, Willen, Gedächtnis (letzteres wohl am wenigsten deutlich). Über die Vernunft schrieb Husserl: “Das Gottesproblem enthält offenbar das Problem der ‘absoluten’ Vernunft als der teleologischen Quelle aller Vernunft in der Welt, des ‘Sinnes’ der Welt.”
[62] Und in der Arbeit
Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte wurde Gott als „Vernunft“ bezeichnet.
[63] Zur zweiten Dimension, der des Willens, notierte Husserl: „Der universale absolute Wille, der in allen transzendentalen Subjekten lebt und der das individuell-konkrete Sein der transzendentalen Allsubjektivität möglich macht, [ist] der göttliche Wille.“
[64] Jeglicher endlicher Wille sei, sofern er sich auf das Gute richtet, ein Strahl des göttlichen Willen.
[65]
Was nun die dritte Dimension, das Gedächtnis, betrifft, so findet sich keine direkte Erwähnung. Husserl weist jedoch auf den Weg der inneren Gotteserkenntnis hin. Gott könne nicht im Äußeren gesucht und erfahren werden, denn der Weg zum Göttlichen führe ins Innere: „Gott spricht in uns, Gott spricht in der Evidenz der Entscheidungen, die durch alle endliche Weltlichkeit in die Unendlichkeit weisen.”
[66]
Gott war für Husserl, wie Lee Chun Lo festhält, mit der absoluten Wahrheit identisch.
[67] Ist es denkbar, dass Stein die entsprechenden Texte des Meisters, insbesondere die
Cartesianischen Meditationen, nicht kannte? Die
Meditationen erschienen 1931 in französischer Sprache, auf Deutsch aber erst 1950, Jahre nach Edith Steins Märtyrertod. Waren ihr auch die unveröffentlichten Aussagen zu Gott als absoluter Vernunft, absoluter Wahrheit und absolutem Willen unbekannt geblieben? Um diese Frage zu beantworten, wären gesonderte Nachforschungen nötig. Außer Zweifel steht jedoch, dass Edith Stein die Atmosphäre augustinischen Denkens und das Wissen um den Weg zu Gott über die Bewusstseinsreflexion durchaus von Husserl bezogen haben kann. Augustinus hatte seinen berühmten Satz: “Sooft wir die Wahrheit erkennen, erkennen wir Gott”, kurz nach seiner Bekehrung zum Christentum, retrospektiv auf den zurückgelegten Weg bezogen, ausgesprochen. In einem ähnlichen Sinn erwies sich auch für Stein die Wahrheit als das Antlitz Gottes. Urteilte Husserl hier anders als Stein? Mit Sicherheit nicht. Nur wollte er auf seine eigene Weise, auf seinem “atheistischen” - dh. nichtkonfessionellen - Weg zu Gott gelangen. Er wollten den Weg der Philosophie beschreiten, ohne die Unterstützung durch den Glauben in Anspruch zu nehmen. Aber in beiden Fällen, sowohl des Meisters als auch der Schülerin, war es ein und derselbe Weg zu jener Wahrheit, die Gott ist und die im Innern des menschlichen Bewusstseins wohnt.