Zbigniew Stawrowski "Vom Gewicht der Worte"
Józef Tischner war nicht nur ein außergewöhnlicher Vertreter der Katholischen Kirche Polens, sondern auch ein herausragender Philosoph und Hochschullehrer, ein aufmerksamer Beobachter und Kommentator des öffentlichen Lebens, der sich u.a. für die Kultur des Tatravorlandes und seinen Dialekt engagierte und zu dessen Zöglingen viele polnische Theaterleute, Regisseure wie Schauspiele, zählten. Und da es geradezu ein Ding der Unmöglichkeit ist, in einem kurzen Referat eine so vieldimensionale Figur zu beschreiben, möchte ich Ihnen heute eine Art philosophischer Meditation zu Tischners Denken vorstellen - eine Meditation, deren Leitfaden das "Wort" sein wird und die Ihnen, wie ich hoffe, den Tischnerschen Geist etwas näher bringen wird.
Tischner sagte von sich selbst ein wenig scherzhaft und provokant, er fühle sich "zuerst als Mensch, dann als Philosoph und erst an dritter Stelle als Priester".
[1] Dem lag der einfache Gedanke zugrunde, dass es in unserem Leben eigentlich nur darum geht, was für ein Mensch man ist. "Der Christ", schrieb Tischner an anderer Stelle, "sollte sich von den anderen Menschen dadurch unterscheiden, dass er in einem umfassenderen Sinne Mensch sein will. Darum geht es: vor allem Mensch zu sein."
[2] Als Suche nach einem umfassenden Menschentum sah Tischner auch seinen Lebensweg als Priester und Philosoph. Für beide Berufungen erscheint das Wort als Grundproblem, denn es ist hier wie da Ausgangsmaterial und Arbeitsinstrument. Der für die Christen so wichtige erste Satz im Prolog des Johannes-Evangeliums: "Im Anfang war das Wort", "En arché ēn ho lógos", enthält schließlich nicht nur eine religiöse Botschaft, sondern auch ein philosophisches Wissen. Es erteilt eine konkrete Antwort auf die Frage nach der arché, nach dem Grundlegendsten, auf jene Frage also, mit der im antiken Griechenland die Philosophie ihren Anfang nahm.
Welche Bedeutung kommt dem Wort auf den eng miteinander verbundenen Lebenswegen Tischners als Philosoph und Seelsorger zu?
Die Philosophie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Erkennen, Beschreiben und Erklären der uns umgebenden Welt. Ihre Hauptaufgabe ist die Suche nach
Wahrheit im Sinne der
adaequatio intellectus et rei[3], das heißt das radikale Bestreben, mithilfe der Vernunft den jeweiligen Untersuchungsgegenstand in seinem Wesen zu erfassen. In der Sprache der phänomenologischen Schule, aus der Tischner hervorging, heißt dieselbe Forderung: "Zurück zu den Sachen". Das Husserlsche "Prinzip aller Prinzipien" fordert, „dass jede originär gebende Anschaung eine Rechtsquelle der Erkentnis sei, dass alles, was sich uns in der ’Intuition’ originär […] darbietet, einfach einzunehmen sei, als was es sich gibt“
[4]. Die phänomenologische Methode lässt uns ins Innere unseres Bewusstsein vordringen, lehrt uns Aufmerksamkeit für alles, was in unseren Erlebnissen gegenwärtig wird, und legt uns die hier zu Tage tretenden Schichten und Dimensionen der Wirklichkeit offen. Im darauffolgenden Schritt müssen allerdings die entsprechenden sprachlichen Bestimmungen gefunden werden, um das Gegebene möglichst adäquat zu benennen und zu beschreiben. Eine solche angemessene Bestimmung kann, in Abhängigkeit vom jeweiligen Erkenntnisgegenstand, mal ein präzises Wort, mal eine treffende Metapher und dann wieder eine zum System ausgebaute intellektuelle Konstruktion sein. Kurz, mit seiner theoretischen, dh. - wie die griechische Etymologie belegt - anschauenden Methode trägt der Philosoph "besondere Verantwortung dafür, dass jedes Ding mit einem angemessenen Wort bezeichnet wird".
[5]
Diese einführenden Bemerkungen bedürfen, ihrer Augenfälligkeit zum Trotz, einer Korrektur, wenn von Philosophen die Rede ist, deren Berufung eben nicht nur in der theoretischen Einstellung gegenüber der Welt liegen. Unsere Lebenswelt besitzt mannigfaltige Dimensionen, von denen einige nicht nur die Haltung eines objektiven, neutralen, die Wirklichkeit treu widergebenden Beobachters verlangen, sondern konkretes, praktisches Engagement. So geschieht es vor allem in der existentiellen Dimension unseres Lebens und in der Welt der interpersonalen Beziehungen. Am Anfang einer so verstandenen Philosophie steht selbstverständlich Sokrates. Obwohl er nicht allzuviel zu wissen meinte, wusste er doch eines mit absoluter Sicherheit: Es gibt nichts Wichtigeres als die Sorge um die Seele. So machte Sokrates die Sorge um die eigene und fremde Seele - die Seel-Sorge - zum konstitutiven Horizont seines Philosophierens.
Einen solchen sokratischen Weg der philosophischen Seelsorge hatte auch Tischner gewählt. In dem Artikel
Die Philosophie, die ich betreibe schrieb er 1978 sein philosophisches Credo nieder: „Jedem Philosophieren (…) sollte, wie mir scheint, eine Wahlentscheidung vorangehen. Aus all dem, worüber gedacht werden kann, ist auszuwählen, worüber gedacht werden muss. Das, worüber gedacht werden muss, gelangt nicht von den bedruckten Seiten der Bücher zu uns, sondern aus dem Gesicht des Menschen, der sich um sein Schicksal sorgt. (...) Über die Qualität der Philosophie entscheidet die Qualität des menschlichen Schmerzes, dem die Philosophie Ausdruck verleihen und heilend zu Hilfe kommen will. Wer dies nicht sieht, steht kurz davor, Verrat zu üben“
[6].
Tischner verweist uns mit diesen Worten darauf, dass in unserer Lebenswelt eine bestimmte Hierarchie besteht: Es gibt Dinge, aber auch dingbezogene Wahrheiten, die mehr oder weniger wichtig sind. Eine Philosophie, die ihres Namens würdig ist, muss ihre Aufmerksamkeit auf das Wichtigste richtet. Dieses ist uns in der Begegnung mit dem anderen Menschen gegeben, vor allem dann, wenn der Andere von einer der vielen Ausformungen des Bösen bedroht wird. Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, solche bedrohlichen Situationen wahrzunehmen, sondern vielmehr darin, ihnen abzuhelfen, dh. dem Anderen zu Hilfe zu kommen. Dies wiederum bedeutet, dass das Wort, dessen sich die Philosophie bedient, eine neue Funktion erhält. Es ist nicht mehr nur Träger von Bedeutung; es erhält zusätzliches Gewicht.
[7] Es reicht nicht mehr aus, die
conditio des Menschen als eines Wesens, das sich um sein Schicksal sorgt, zu beschreiben. Das Wort, das im Dienst des Philosophen steht, hat eine praktische Dimension: Es kann als Heilmittel oder als Gift wirken, den Anderen retten oder schädigen. Das Gefüge der interpersonalen Wirklichkeit setzt sich ausschließlich aus gewichtigen Worten zusammen, die nicht nur beschreiben, sondern uns und unsere gemeinsame Welt gestalten. All dies muss einen Philosophen interessieren, der zugleich christlicher Seelsorger ist.
Dass das Christentum wesentlich eine Religion des Wortes ist, machte sich Tischner interessanterweise erst bei der Lektüre der jüdischen Dialogphilosophen bewusst: „Das Meiste verdanke ich den jüdischen Denkern, Lévinas und Rosenzweig. Sie eröffneten mir die dialogische Dimension der Religion. Durch sie entdeckte ich auch zu meinem großen Erstaunen, wie groß in unserem Denken und Glauben der Ballast der heidnischen, griechisch-römischen Tradition ist. (...) Heidnischer Ballast ist auch die Sprache der Ontologie, wenn sie zur Beschreibung religiöser Dinge herangezogen wird, und die scheinbar unproblematische Überzeugung, dass die Religion vom Paradies ausgegangen sei und nicht, wie die Juden dafürhalten, von Abraham.“
[8]
Der Dialog, der sich zwischen uns Menschen unaufhörlich vollzieht, hat Tischner zufolge eine dramatische Struktur. Es geht hier vor allem um Gut und Böse, letztlich um unsere Erlösung oder Verdammung. So gestalten uns auch die Worte, die im interpersonellen Dialog ausgesprochen werden, in zweierlei Weise: konstruktiv oder zerstörend. Ein wenig überraschend beschäftigt sich Tischner in seinem philosophischen Hauptwerk,
Das menschliche Drama, vor allem mit den negativen Aspekten des Dialogs, damit, wie der Mensch vom Bösen angegriffen und vernichtet werden kann. Er erklärt diesen Umstand wie folgt: „Das Gute kommt zwar unseren Hoffnungen näher, doch das Böse kommt unseren Erfahrungen näher. Eine Philosophie, die sich zur phänomenologischen Methode bekennt, ist gewissermaßen von vornherein dazu verurteilt, der Analyse des Bösen Vorrang vor der Analyse des Guten einzuräumen.“
[9] Das Böse, das im zwischenmenschlichen Bereich vermittels der Worte wirkt,
[10] droht oder lockt mit Versprechungen: „Die Versuchung begegnet uns immer in Form einer geheuchelten Versprechung, die Gutes in Aussicht stellt, aber Böses bewirkt.“
[11] So beginnt Tischner in
Das menschliche Drama seine Analyse geradezu selbstverständlich mit der biblischen Szene der Versuchung im Paradies, um sich anschließend den großen Werken der Weltliteratur zuzuwenden.
Dabei zeigt Tischner zunächst, wie das Böse auf der ästhetischen Ebene funktioniert. Worte, die den Wert des Schönen verabsolutieren, werden zu Werkzeugen teuflischer Versuchung. Einmal von ihnen verzaubert, lässt sich das Opfer dazu verführen, auch Untreue ästhetisch zu rechtfertigen - so in Kierkegaard
Entweder-Oder. Eine andere Form der Versuchung ist die Selbstrechtfertigung durch Lüge, mitunter durch ein umfassendes, systematisches Lügengebäude, wie Tischner anhand des Haupthelden von Dostojowskis
Schuld und Sühne, Raskolnikow, darlegt. Das Bild einer besonders raffinierten Versuchung findet Tischner in Sheakespeares
Richard III: Lady Anna ist bereit, dem Mörder ihres Mannes zu vergeben und ihn gar zu heiraten. In ihrem Mitleid will sie den Verbrecher vor ewiger Verdammnis bewahren, und so geht sie in die Falle, die ihr der Mörder hinterhältig gestellt hat. Tischner kommentiert: „Der Versucher ruft (...) zu Mut, Liebe, Opferbereitschaft und Mitgefühl auf. (...) Ein wesentlicher Faktor jeder Versuchung ist die Versprechung, dass dank dem gewünschten Akt der Aufopferung er, der Versucher, sich erretten lässt. (...) Darauf folgt die Überprüfung der Bürgschaft - wird der Versucher sein Versprechen einlösen? Der Versucher denkt aber gar nicht daran, die ihm vertrauensvoll entgegengestreckte Hand zu ergreifen. Er lässt im Stich. Er stiftet zum Verrat an, und wenn er dies bewirkt hat, begeht er selbst Verrat. Der letzte Sinn des ganzen Dramas wird offengelegt. Was Versprechen des Guten sein wollte, erwies sich als Versuchung. Die ganze Tragweite des menschlichen Dramas wurde offenkundig - umsonst war die Aufopferung. Zweck der Versuchung war es, zu sinnnlosem Opfer zu verführen.“
[12] Diese Beschreibung führen zu der Frage: Woher diese Versuchungen des Versuchers? Tischner will zeigen, dass sie aus Rache entstehen: Der Versucher war selbst verraten worden: „Der Verrat ist eine Weigerung, die Existenz des Anderen als gerechtfertigt anzunehmen. Wenn ich selbst für meine Existenz keine Rechtfertigung finde, warum sollte ich sie dem Anderen zugestehen.“
[13]
Was hier in aller Kürze vorgestellt wurde, sind freilich nur Hinweise auf die Vielseitigkeit der phänomenologischen Analysen Tischners in
Das menschliche Drama, die sichtbar machen, wie das Böse durch das Wort wirkt. Eine Fortsetzung finden diese Untersuchungen in Tischners letztem Buch,
Der Streit um die Existenz des Menschen. Hier geht Tischner zwar auch vom Problem des Bösen aus und beschreibt u.a. die verschiedenen Arten der Versuchung im totalitären System. Doch sein Hauptaugenmerk gilt der Frage, wie das Gute in der Menschenwelt Präsenz und Wirkung zeigt. Besonders wesentlich ist hierbei die Erfahrung der Gnade. Die Gnade berührt den Menschen und erweckt ihn zum Leben, ohne seine Freiheit zu vernichten, ja im Gegenteil: Sie befreit den Menschen aus den Fesseln des Bösen. Auch die Gnade wirkt vermittels ihrer ureigensten Worte, der Worte von Offenbarung und Erlösung. Letztere gelten Tischner nicht nur als religiöse, sondern auch als philosophische Kategorien, die zur Beschreibung der tiefsten Dimensionen zwischenmenschlicher Beziehungen taugen.
Ich darf Sie, sehr geehrte Damen und Herren, dazu einladen, sich mit den eingehenden Analysen Tischners bekannt zu machen, um so mehr, als beide Bücher in deutscher Sprache zugänglich sind:
Das menschliche Drama seit über 20 Jahren,
Der Streit um die Existenz des Menschen seit dem vergangenen Jahr.
Auf der Suche nach Beispielen für Worte, die die Wirkungsweise des Guten erkennen lassen, lege ich nun allerdings Tischners philosophische Hauptwerke beiseite und greife auf seine religiösen Texte zurück. Letztlich ist das religiöse Drama das wichtigste im Leben des Menschen. Es betrifft die Beziehung des Menschen zu Gott; alle anderen Dramen, die uns mehr oder weniger beschäftigen, sind in diesem einen Drama enthalten.
Vor einigen Monaten wurde in Polen eine Sammlung Tischnerscher Predigten zur Geisteserneuerung (
recollectae) aus den Jahren 1966 bis 1996 veröffentlicht. Unter dem wohlgewählten Titel
Hoffnung in Erwartung des Wortes zeigen diese Texte einen Seelsorger, der sich des Gewichts seiner Wort wohl bewusst ist. Ausgehend von der Bibel macht Tischner Worte der Wahrheit zugänglich, die nicht nur zur Erleuchtung, sondern vor allem auch zur inneren Stärkung dienen. Diese Worte zur Stärkung heißen im Übrigen bei Tischner ganz verschieden: wesenhafte Worte, Worte des Lebens, Worte des Lichts und der Klarheit. Die „wesenhaften Worte“ gehen auf den hl. Johannes vom Kreuz zurück, der diese Bezeichnung auf Gottes eigene Worte anwandte, dh. auf solche, die nicht beschreiben, sondern erschaffen.
[14]
Die „Worte des Lebens“ beziehen sich auf Petrus: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (J 6, 68). Tischner findet solche Worte auch in anderen biblischen Szenen, in denen Jesus mit den Menschen spricht, etwa mit dem Gelähmten: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mat. 9, 2). Der ihm zuhörenden Maria bezeugt Jesus, sie habe anders als die geschäftige Marta "das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden!" (Luk. 10, 42). Dies sind, so Tischner, „Worte des Lebens, kleine Worte, die in kleinen, geradezu winzigen Momenten wahrgenommen werden und dem menschlichen Leben eine neue Richtung verleihen können. Wenn diese Worte des Lebens fallen, besiegeln sie eine menschliche, mehr oder weniger heroische Wahlentscheidung auf lange Zeit. Die Worte des Lebens erschaffen den Menschen.“
[15] Tischners seelsorgerische Schlussfolgerung ist einfach: Wenn solche Worte von Gott zu uns Menschen gelangen, so müssen wir dafür sorgen, dass ähnlich belebende Worte von uns zu anderen Menschen und zu Gott gelangen.
[16]
Auch in einem anderen Beitrag Tischners (1979) steht Petrus im Mittelpunkt: „Petrus hatte in seinem Leben Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass er selbst nicht ohne Sünde ist. (...) Eines Tages versprach er Jesus: 'Auch wenn dich alle verleugnen werden, ich werde dich niemals verleugnen.' Wie oft haben wir das schon gehört: (...) Ich bin anders. Ich bin besser, stärker, treuer; ich liebe dich mehr als alle anderen. Aber nur einige Stunden später macht Petrus die Erfahrung, dass er Schuld auf sich geladen hat. Erwiesenermaßen ist er nicht anders, sondern so wie alle anderen. Und hieraus zieht Petrus bemerkenswert weise Schlussfolgerungen. Wenn er die anderen über Jesus Christus belehrt, lässt er jenes Ereignis nie unerwähnt. Er lehrt nicht aus einer Position der Überlegenheit: ihr seid sündig, ich unschuldig. Er lehrt wie ein Bruder. Er verurteilt niemanden, sondern erhellt den Weg. Jene Erfahrung hat Petrus dazu gebracht, auf Worte, die hart wie Steine sind, zu verzichten. Er verzichtet auf das Gehabe der Leute, die die Ehebrecherin vor Christus schleppten, stolz, auf die Steinigung verzichtet zu haben. Petrus behält die Worte, die als Steine geworfen werden können, für sich und verwandelt sie in Worte, die Licht sind. Die Schuld muss dem Menschen gezeigt werden. Aber auf welche Weise muss sie ihm gezeigt werden? Nun - durch die Teilhabe am Licht, nicht durch die Einteilung in 'Angeklagte' und 'Ankläger'. Petrus hat das verstanden.“
[17]
Hier scheiden sich die Worte. Die einen begegnen uns wie Licht, die anderen wie geworfene Steine. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Episode erinnern, die für Tischner persönlich außerordentlich wichtig wurde. Als junger Priester hielt er vor Studenten eine Vorlesung zum Thema Sexualität. Im Anschluss daran war er mit sich selbst sehr zufrieden. Seine Argumente hatten niemandem, der anderer Meinung war, auch nur die geringste Chance gelasssen. Den Vortrag hatte auch der spätere Krakauer Weihbischof Jan Pietraszko verfolgt. Er meinte zu Tischner: „Ich hatte auch einmal eine Vorlesung in diesem Stil gehalten und bemerkte dann, wie jemand aus dem hinteren Bereich der Kirche hinausging. Den habe ich nachher nie wieder in einer Kirche gesehen.“ Tischner kam nach Jahren auf dieses Gespräch zurück: „Im ersten Moment bewegte mich das kaum. Aber die Worte waren tief eingedrungen. Erst nach längerer Zeit verstand ich Pietraszko. Mir wurde klar, dass meine Aufgabe nicht darin besteht, meine Thesen zu beweisen, sondern so vorzugehen, dass der Zuhörer bereit ist, wieder in die Kirche zu kommen. Es soll sich von meinen Thesen bestärkt fühlen. Das war das wichtigste Ereignis in meiner gesamten Tätigkeit als Prediger.“
[18]
Das Christentum ist für Tischner „eine einzige Religion des Wortes, jenes Wortes, das den Bund herstellt“. Das Wort des Lebens spielt eine konstruktive Rolle. Es wirkt verbindend, gemeinschaftsbildend. So verweist Tischner auf zwei Arten von Worten, die zum Christentum gehören: Die Worte der Offenbarung, dh. der Erwählung, die Freiheit voraussetzen. Und die Worte der Erlösung, dh. des Loskaufs von der Schuld, die ein Opfer voraussetzen.
[19] Die einen wie die anderen sind letztlich Worte einer Liebe, die zu Gegenseitigkeit führt.
Wenn sich Gott in offenbarenden Worten an die Menschen wendet, spricht er sie mit ihren Vornamen an: Adam, Abraham, Maria. Gott hat seine Wahl getroffen. Tischner sagt hierzu: „In der Religion geht es darum, das Individuum aus der Allgemeinheit herauszulösen und es zu einem Wesen zu machen, das einen eigenen Namen besitzt. Der Engel legt Maria ja auch keine Theorie Gottes oder des Universums dar. Er spricht von etwas völlig anderem: 'Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären' (...) Hier muss eine Wahl getroffen werden (...). Nun bin ich entdeckt, bemerkt, mit meinem Namen angesprochen worden. Nun erst bin ich, wer ich in Wahrheit bin. (...) Nur die Erwählten treten wahrhaft ins Dasein.“
[20] Ähnliches geschieht in den zwischenmenschlichen Beziehungen: „Wir alle kennen aus eigener Erfahrung dieses angespannte Zittern von Leib und Seele, wenn jemand, den wir sehr schätzen, zum ersten Mal 'du' zu uns sagt. Das heißt, dass er uns erwählt hat.“
[21] Und erst auf diese Erwählung können wir aus eigener Freiheit und eigener Wahlentscheidung antworten: indem wir annehmen oder ablehnen.
Die Worte der Erwählung, der Anrufung mit dem Vornamen, drücken nicht nur Freiheit aus und rufen zur Freiheit auf, sondern verweisen auch auf ein Versprechen.
[22] Es ist das Treueversprechen dessen, der uns aus freien Stücken erwählt hat. Die Worte der Erlösung, des Loskaufs von der Schuld, sind die Worte des stärkstmöglichen Treueversprechens. Sie bestätigen eine Liebe, die sagt: Ich werde dich niemals verlassen.
[23]
Hören wir noch einmal die Aussage Tischners: „Was ist das Wort? In der Bibel ist es immer Ausdruck von Treue. Das Wort kann Verschiedenes bedeuten - Baum, Haus, Fluss, Laub -, aber sooft es zwischen dir und mir erscheint, bedeutet es: Treue. Je vollendeter das Wort ist, umso mehr Treue enthält es. Alle Worte, die Gott an die Menschen richtet, sind der Gipfel der Treue. (...) Sie drücken immer ein und dasselbe aus: Treue. Gott ist treu, deshalb spricht er. Wenn Gott spricht, so spricht aus ihm die Treue. Mit dem Menschen verhält es sich ein wenig anders. Sein Wort entfernt sich immer mehr oder weniger von der Treue. Einmal sucht es Treue, ein anderes Mal erwartet es Treue, wieder ein anderes Mal wirft es jemandem Untreue vor. Aber das menschliche wie das göttliche Wort bewegen sich rund um die Treue und wollen zur Treue.“
[24]
Abschließend möchte ich den beiden wichtigsten und "schwerwiegendsten" erbaulichen Worten - den Worten der Erwählungen und der Treue, auf denen unsere Existenz aufbaut - noch ein besonders wichtiges Wort hinzufügen, das bei Tischner ebenfalls eine Rolle spielt, wenn auch an anderer Stelle: das Wort des Dankes. Allem Unglück, das auf uns gekommen ist, aller Sünde, Schwäche und Pein zum Trotz gibt es immer die Aussicht darauf, das Gute zu erkennen und sich auf seine Seite zu stellen. Kurz vor seinem Tod sprach Tischner Worte aus, in denen sich die Einzelereignisse seines Lebens zu einem harmonischen Ganzen fügen: "Am Ende unseres Wissens um die Welt und um die Dramen des menschlichen Lebens, das eigene Drama einbegriffen, richtest du den Blick auf dich selbst und siehst alles, was du gewonnen hast; und plötzlich, vielleicht schon am Ende des Lebens, wirst du von dem Bewusstsein erhellt, dass 'es gut war'... Vielleicht geht es eben darum; vielleicht sind wir auf der Welt, um am Ende die überaus schönen Worte zu wiederholen, die Gott am Tage, da er uns geschaffen hatte, sprach: 'Es war gut'. Und so soll es bleiben."
[25]
[1] Józef Tischner, Ksiądz na manowcach, Kraków 1999, S. 6.
[2] Józef Tischner, Dorota Zańko, Jarosław Gowin, Przekonać Pana Boga. Z ks. Józefem Tischnerem rozmawiają Dorota Zańko i Jarosław Gowin, Kraków 2002, S. 56.
[3] Thomas von Aquin, Sth. I q. 21 a. 2c.
[4] Edmund Husserl, Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana III/1, Den Haag 1976, S. 51.
[5] Józef Tischner, Nadzieja czeka na słowo. Rekolekcje, Kraków 2011, S. 225.
[6] Józef Tischner, Myślenie według wartości, Kraków 1982, S. 13.
[7] Józef Tischner, Der Streit um die Existenz des Menschen, Berlin 2010, S. 196: "Die Offenbarung, in der die Art und Weise des Sagens wichtiger ist als der ausgesagte Inhalt, konstituiert eine neue Ordnung zwischen den Personen. Die Worte haben hier eher 'Gewicht' als 'Bedeutung'. Die Worte 'wiegen'. Sie eröffnen die Dimension der Güte."
[8] Józef Tischner, Dorota Zańko, Jarosław Gowin, Przekonać Pana Boga, op. cit., S. 45.
[9] Józef Tischner, Filozofia Dramatu, Kraków 1998, S. 301. Deutsche Ausgabe: Das menschliche Drama. Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas, Üb. Stanisław Dzida, München 1989.
[10] Józef Tischner, Das menschliche Drama, Üb. Stanisław Dzida, op. cit., S. 164: „Das Böse ist in einer anderen Ebene angesiedelt als das Unglück. Das Böse findet seinen Standpunkt in der dialogischen Mensch-Mensch-Relation, und nicht in der intentionalen, in welcher der Mensch und die Bühne zueinander treten.“
[11] Ebd., Üb. Stanisław Dzida, S. 216.
[12] Ebd., Üb. Stanisław Dzida, S. 253.
[13] Ebd., Üb. Stanisław Dzida, S. 256.
[14] Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel, Kap. 31, Üb. Ulrich Dobhan, Elisabeth Hense, Elisabeth Peeters, Gesammelte Werke, Bd. 4, Freiburg u.a. 1999, S. 318f.: „Die dritte Gattung von inneren Worten, sagten wir, waren wesenhafte Worte, [die] (...) im Menschen eine lebendige und wesenhafte Auswirkung [haben] (...). Wenn unser Herr beispielsweise in einem ausgeformten Wort zum Menschen sagte: 'Sei gut', wäre er alsbald seinem Wesen nach gut. Oder wenn er zu ihm sagte: 'Liebe mich', würde er alsbald in sich das Wesen der Gottesliebe haben und fühlen; oder wenn er wegen dessen großer Furcht zu ihm sagte: 'Fürchte dich nicht', würde er alsbald große Stärke und Gelassenheit fühlen. Denn die Rede Gottes und sein Wort ist, wie der Weise sagt, voll Macht (Kor 8,4). Und so bewirkt er im Menschen wesenhaft, was er sagt.“
[15] Józef Tischner, Nadzieja czeka na słowo, op. cit., S. 80.
[16] Ebd., S. 85: "Solange von uns ein Gebet ausgeht, gehen auch Worte des Lebens von uns zu Gott. Nicht allein Gott soll Worte des Lebens an uns richten, sondern wir sollen auf seine Worte mit Worten des Lebens antworten. (...) Gott soll uns so ansprechen können, wie Petrus Jesus ansprach. Er soll zu uns sagen können: 'Auch du, mein Sohn, hast Worte des Lebens." Tischner hält fest, dass wir Gott erschaffen, wenn wir Worte des Lebens an ihn richten. Zwar erschaffen wir ihn nicht an und für sich, aber doch insofern, als er für uns und unter uns ist, S. 304f.: "Was geschieht, wenn der treue Gott vom Menschen erwählt wird? Dann wird das Wort zu Fleisch und wohnt unter uns. (...) Damit Gott zu uns kommen kann, muss er erwählt werden. Wenn wir ihn nicht erwählen, wird er wohl eine schöpferische Macht und ein blendendes Licht sein, aber er wird nicht unter uns sein. Er wird nicht zu uns kommen."
[17] Ebd., S. 147.
[18] Józef Tischner, Dorota Zańko, Jarosław Gowin, Przekonać Pana Boga, op. cit., S. 113.
[19] Józef Tischner, Nadzieja czeka na słowo, op. cit., S. 248.
[20] Ebd., S. 253f.
[21] Ebd., S. 73, vgl. S. 252.
[22] Ebd., S. 167: "Das Wort aller Worte ist aber das Wort des Versprechens."
[23] Als Tischner in den 90er Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, er sei ein ungläubiger Priester, antwortete er: "Es ist unwichtig, ob der kleine Józef an Gott glaubt. Wichtig ist, dass Gott an den kleine Józef glaubt." Hinter dieser etwas unbotmäßigen Formulierung verbirgt sich eine tiefe Intuition für unsere Beziehung zu Gott, der uns erwählt hat, uns liebt und uns niemals verlassen wird.
[24] Józef Tischner, Nadzieja czeka na słowo, op. cit., S. 303f.
[25] Józef Tischner, Jacek Żakowski, Tischner czyta Katechizm, Kraków 2009, S. 67.