Tadeusz Gadacz "Das Problem des Bösen in der Philosophie Józef Tischners"
Zu sein heißt in Wirklichkeit: aus dem Nichts des uns umgebenden Bösen Gutes zustande zu bringen[1].
Das Problem des Bösen[2] ist für Tischner ein ewiges philosophisches Problem, das mit der conditio humana zusammenhängt. In seiner axiologischen Interpretation des platonischen Höhlengleichnisses schreibt Tischner: „Was macht uns diese Erfahrung sichtbar? Nun, die Welt, in der wir leben, ist nicht jene Welt, wie sie sein könnte und sollte. Die ursprüngliche axiologische Erfahrung sagt uns nicht, dass etwas da sein sollte, was nicht da ist. Sie sagt uns auch nicht, dass wir das eine tun, das andere lassen sollen. All dies erweist sich als sekundär. Primär ist nur dieses Eine: es gibt etwas, was es nicht geben sollte. Die sichtbare Welt ist die Vortäuschung einer Welt. Prometheus ist an die Wand genagelt - aber warum, wofür? Wir alle leben einer Höhle voller Schatten - warum sind wir hier angekettet? Warum leiden die Gerechten? Warum musste Sokrates auf solche Weise sterben? Primär ist immer eines: es gibt
etwas, was es nicht geben sollte.”[3] Das 20. Jahrhundert, Zeuge der Konzentrationslager und der Gulag, zwingt uns zudem, die Frage nach dem Bösen erneut zu stellen. Das Böse des Faschismus und des Kommunismus, sagt Tischner, lässt es uns in seiner Radikalität möglich erscheinen, dass unser Leben in die Zeit eines modernen Manichäismus fällt. „Ganz allgemein
gesprochen: der Manichäismus hat sich heutzutage zu einer Philosophie entwickelt, die nicht die Nichtexistenz des Guten verkündet, sondern behauptet, das Gute existiere nur insofern und in Hinsicht darauf, dass es dem Bösen als Nahrung dient. Der letzte Akt des menschlichen Dramas gehört den Dämonen. Das Böse als intelligenter Parasit gestattet dem Guten ein Wachstum bis zur Zeit der Ernte; sodann stellt sich heraus, dass es nur gewachsen ist, um den Triumph des Bösen zu vergrößern. Der grundlegende Sinn des menschlichen Dramas ist vom Bösen vorgegeben worden.”[4] Der so verstandene Manichäismus hat zwei Gesichter: Nihilismus und Pessimismus. Der Nihilismus behauptet, dass objektive und verbindliche Werte nicht existieren. Der Pessimismus geht hingegen davon aus, dass sie zwar
existieren, jedoch in unerreichbarer Ferne für den schwachen Menschen. Der Umstand, dass diese moderne Form des Manichäismus denkmöglich ist, zwingt uns mit aller Macht, die Frage nach dem Bösen erneut zu stellen.
Das Böse ist jedoch, ebenso wie das Gute, kein Gegenstand, sondern etwas, woran der
Mensch teilhat. Daher ist es nicht objektivierbar, und das wiederum heißt: es ist unbestimmbar. Wir können nur danach fragen, wie es in Erscheinung tritt. Tischner erwägt drei Erscheinungsweisen: die axiologische, die agathologische (dialogische) und die strukturelle bzw. dämonische.
In der Frühphase seines Philosophierens, unmittelbar nach der Entdeckung des „axiologischen Ich”, betrachtete Tischner das Problem des Bösen in axiologischer Perspektive. Er befand sich damals unter dem Einfluss der Axiologie Max Schelers. Gut und Böse band er an eine objektive Wertehierarchie. 1976 schrieb er in seinem Buch Die Ethik der Werte und der Hoffnung: „Ethisch gut ist jenes Handeln, das sich in Harmonie mit der objektiven Werteordnung befindet, ethisch böses Handeln hingegen steht im Widerstreit mit dieser Ordnung.”[5] Die Wurzel des Bösen ist demnach ein mannigfaltig verstandener axiologischer Subjektivismus. Das Böse kann auf Grund diverser Störungen der Wertehierarchie in die Existenz eintreten. Als erste dieser Störungen tritt uns moralische Einseitigkeit bzw. Enge entgegen: im Streben nach der Umsetzung niederer Werte werden höhere ignoriert. „Die Freude an gewissen Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten kann der
Gesundheit des Menschen abträglich sein, die einseitige Entwicklung körperlich-vitaler Werte
kann die Entwicklung geistiger Werte beeinträchtigen und ein einseitiges Sich-Verlieren in die Sphäre geistiger Werte kann den Menschen für das unzugänglich machen, was wirklich heilig ist.”[6] Einseitigkeit kann auch in umgekehrter Richtung vorliegen, dann nämlich, wenn im Streben nach der Umsetzung höherer Werte die als niedriger eingestuften Werte übergangen werden. Eine andere Art axiologischen Subjektivismus ist die Arglist: höhere Werte werden mit dem Ziel verwirklicht, einen Wert niederen Ranges zu erlangen. Dies kann als Verlogenheit oder Niedertracht zu Tage treten. Als Beispiel für Verlogenheit sah Tischner die Haltung Raskolnikows an (Schuld und Sühne). Dieser entschied sich zum Mord an der Wucherin, um an Geld für den Abschluss seines Rechtsstudiums zu kommen. Die subjektiven Absichten des Handelnden vermögen jedoch die objektive Werteordnung nicht zu ändern und „sind nichts weiter als ein Ausdruck menschlichen Willens, der in seinem Wirken entweder 'gut' oder 'böse' ist, der entweder dem Ruf der Werte folgt oder diesen Ruf mit eigenen Schreien übertönt.”[7]
Hatte Tischner in der ersten Phase seines Denkens eine objektive Wertehierarchie als ursprünglich angenommen, so erkannte er in der darauf folgenden Phase, in welche auch die Entdeckung der agathologischen Dimension fällt, dass hier die Anwesenheit des anderen Menschen ursprünglich ist. So schrieb er bereits in der Ethik der Werte und der Hoffnung: „Nicht die Werte, nicht die Normen und nicht die Gebote sind 'zuerst da', sondern die Anwesenheit des anderen Menschen.”[8] Die Erfahrung der Anwesenheit des anderen sah Tischner von nun an als Grunderfahrung an.[9] Der Begriff der Agathologie erschien erstmalig zwei Jahre später (1978) in der Arbeit Wertedenken (Myślenie według wartości) und ging anschließend in die Philosophie des Dramas ein. Diese war Tischners eigenes Modell der Phänomenologie.
Das Wesen jeglichen Dramas besteht für Tischner im Drama von Gut und Böse, bzw., um genau zu sein, von Böse und Gut. Wir lesen: „... das Gute befindet zwar näher an unserer Geschichte, aber das Böse liegt unseren Erfahrungen näher. Eine Philosophie, die sich zur Anwendung der phänomenologischen Methode bekennt, ist gewissermaßen von vornherein dazu verurteilt, der Erforschung des Bösen den Primat vor der Erforschung des Guten einzuräumen.”[10] Und weiter: „Das Drama von Gut und Böse versammelt in sich alle Arten des
Dramas. (...) Nur der Mensch ist Subjekt des Dramas von Gut und Böse, denn nur der Mensch
hat an Einem wie am Anderen teil; ihm ist es zu verdanken - oder anzulasten - dass das Gute und das Böse in die Welt gelangen.”[11] Dieses Drama ist in seinem Wesen metaphysisch. „Der
Mensch nimmt am Drama teil, und durch seine Seinsweise 'spricht' er die Metaphysik von Gut und Böse 'aus'.”[12] Erst in einem sekundären Sinn ist das Drama ethisch und religiös. Nach Tischner müssen wir das Böse vom Unglück unterscheiden. Damit wollte Tischner das Böse auf das Handeln von Personen zurückführen. Das Böse ist interpersonell.
Das Unglück ist nur in der Beziehung des Menschen zur Szene des Dramas, das heißt zur Welt, möglich, das Böse hingegen tritt in den Beziehungen zwischen den Helden des Dramas zutage. Es ist Verrat, Lüge, Verachtung, Diebstahl u.ä. Es ist daher kein Seiendes, kein Gegenstand bzw. Sache.[13] Das Unglück wiederum, von Tischner mitunter auch als ontologisches Böses bezeichnet, tritt am vollständigsten in der Erfahrung des Todes in Erscheinung. „Für die ontologische Interpretation ist der Tod das Böse alles Bösen.”[14] Will man Tischners Unterscheidung zwischen Unglück und Bösem auf die bekannte Unterscheidung beziehen, die Gottfried Wilhelm Leibniz in der Theodizee trifft, so entspricht Tischners Begriff des Unglücks dem metaphysischen und physischen Bösen (bzw. „Übel”) bei Leibniz, und Tischners Begriff des Bösen dem leibniz'schen moralischen Bösen (bzw. „Übel”). Somit verdient nach Tischners Auffassung ausschließlich das moralische Böse die Bezeichnung „Böses”, denn als einziges hat es seinen Verursacher in einem Menschen. Das Böse ist wesentlich mit dem Guten verbunden, und das Gute mit dem Bösen. „Das Wesen des Dramas ist ohne die Begriffe des Guten und des Bösen undenkbar.”[15] Möglich ist das Drama daher in einem agathologischen Horizont. „Der agathologische Horizont”, schreibt Tischner, „ist so beschaffen, dass alle Erscheinungsweisen meiner Person und des anderen Menschen unter der Macht eines eigentümlichen Logos stehen - des Logos von Gut und Böse, Besser und Schlechter, Aufstieg und Untergang, Sieg und Niederlage, Erlösung und Verdammnis.”[16] Dies bedeutet für Tischner, zum Ersten, dass das Böse im zwischenmenschlichen Raum in Erscheinung tritt und untrennbar mit dem Guten verbunden ist. Zum Zweiten bedeutet dies, dass das Böse außerhalb des Seins ist. Die Ideen des Guten, Wahren und Schönen sind nur auf einer Ebene ewiger Ideen austauschbar. In der endlichen Erfahrung der menschlichen Existenz stehen sie miteinander im Streit. Der agathologische Raum ist daher der Raum des Dramas. „Die Transzendentalien decken sich möglicherweise irgendwo in den Höhen von Abstraktion und Ewigkeit. Werden sie jedoch so erfahren, wie sie im menschlichen Drama der Vergänglichkeit auftreten, befinden sie sich miteinander in einem Konfliktzustand sui generis. Daher erhebt sich die Frage: ist das Sein wirklich Sein oder nur ein Anschein von Sein? Enthüllt das Schöne vor uns die Wahrheit der Welt oder nährt es uns mit bloßen Lügen? Ist das, was als gut erscheint, wirklich gut? Ist die Wahrheit auch dann wahr, wenn sie uns unglücklich macht? Ist es besser, mit Lügen zu leben, die uns glücklich machen, oder mit Wahrheiten, die uns Unglück bringen? Weil die Transzendentalien im Streit stehen, entdeckt der Mensch, dass seine Welt Risse aufweist und dass er selbst ein Wesen ist, durch das Risse gehen - im eigentlichen, nicht im zufälligen Sinne ein dramatisches Wesen.”[17]
Eine Antwort auf die radikale Frage, woher das Böse stammt, wäre demnach erst dann
möglich, wenn wir auf einige andere Fragen Antwort wüssten: Warum muss der Raum, in dem wir leben, vom Streit zwischen Gutem, Wahrem und Schönem geprägt sein? Warum müssen wir in einem solch dramatischen Raum leben? Auf diese und ähnliche Fragen gibt es jedoch keine Antworten. Daher hält Tischner nur fest, dass der Mensch ein dramatisches Wesen ist, das heißt ein Wesen, welches das Gute nur um den Preis des Bösen erfahren kann. Die Entdeckung des agathologischen Horizonts bzw. Raumes bedeutet freilich nicht, dass Tischner auf die axiologische Dimension verzichten würde. In Wertedenken schreibt er über beide Dimensionen menschlicher Erfahrung: „So müssen wir also zwei Arten von Erfahrung unterscheiden: die agathologische und die axiologische. Erstere ist die grundlegendere: sie legt die 'negative' Seite all dessen, was uns umgibt, offen. Sie sagt uns: es
gibt etwas, was es nicht geben sollte; die Welt ist die Vortäuschung einer Welt. Diese Erfahrung zeigt uns auch die Tragik des menschlichen Daseins. In ihr fehlt noch das Erleben der Pflicht. Ich weiß noch nicht, was ich soll, wie ich soll, ob ich überhaupt etwas soll. Trotzdem gerate ich schon in eine gewisse Auflehnung. Am Anfang des Denkens war die Auflehnung, sie ist seine Ursünde. In ihr ist bereits eine gewisse Präferenz vorhanden, hier liegen die Keime für die Wahrnehmung einer Hierarchie. Die Präferenz ist die Möglichkeitsbedingung des Denkens. Erst im nächsten Schritt, nach der agathologischen Erfahrung oder 'auf' sie aufbauend, kommt es zur axiologischen Erfahrung, die im Kern besagt: 'wenn du willst, kannst du...'. Jetzt erst versuche ich zu erkennen, was zu tun, wie vorzugehen, wer zu retten, wem hinterherzulaufen und was aufzugeben ist. Die agathologische Erfahrung ist vor allem eine offenlegende, die axiologische hingegen eine entwerfende, projizierende bzw. projektierende.”[18] Man kann es auch folgendermaßen sagen: „das Agathologische bewirkt, dass die Existenz als solche zum Problem wird.”[19] Das Problem bringt den Menschen dazu, sich der Begrenztheit der Menschlichkeit zu stellen. Dabei zeigt das Agathologische Handlungsrichtungen auf.
Die Gabe des agathologischen Horizonts ist das „Antlitz”, sagt Tischner unter Berufung auf das Konzept des Antlitzes bei Emmanuel Lévinas. Sachen haben ein Aussehen, Menschen haben ein Antlitz. Ursprung der Begegnung und des Dramas ist die Offenbarung des Antlitzes. „Das Antlitz ist Ausdruck jener existentiellen Bewegung, in welcher der Mensch sich dafür zu rechtfertigen versucht, dass er da ist, und in welcher er seine Existenz dem Schutz des Guten anempfiehlt, das ihm Hoffnung bringt.”[20] Das Antlitz ist eine Spur des
Guten, seine Ankündigung, zugleich aber enthüllt es mögliches Böses. Der andere zeigt sich mir auf dem Wege der Anwesenheit und Seinsintuition. Dieses Sein ist jedoch nicht von der Erfahrung des Bösen, das ihm droht, trennbar.[21] In der Metaphorik des Antlitzes bezieht sich Tischner auf ein anderes biblisches Bild als Lévinas, nicht auf Witwe, Waise und Ausländer des Alten Testaments, sondern auf das Kreuz des Neuen Testaments. Tischner ruft die drei Sätze in Erinnerung, die Jesus am Kreuz sprach: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
Tun”, „Mein Gott, warum hast du mich verlassen”, „In deine Hände lege ich meinen Geist”. Der erste Satz offenbart den Heroismus des Antlitzes, der zweite seine Tragik, der dritte die Hoffnung auf Erlösung.[22] Das Drama eröffnet die Möglichkeit eines Heroismus, aber ebenso die Möglichkeit einer Tragik, die auf dem Sieg des Bösen über das Gute beruht. Der heroische Triumph des Guten über das Böse kann ein Triumph der Macht sein, die die Unzerstörbarkeit des Guten sichtbar macht, oder ein Triumph der Wahrheit, die durch alle Illusionen hindurch dennoch zum Vorschein kommt. Das Ideal eines heroischen Triumphs wäre die Verbindung von Macht und Klarheit, wobei das Gute zugleich als unzerstörbares und klares erschiene. Andererseits jedoch „endet die Tragödie mit einem Ereignis, in welchem das Gute seine Ohnmacht im Streit mit dem Bösen entblößt.”[23] Die Möglichkeit der Tragödie und die Perspektive des Tragischen ist eine unabtrennbare Möglichkeit jeglichen Dramas und jeglicher Begegnung.
Für Tischner transzendiert die Agathologie die Ontologie. Aus diesem Grund polemisierte er gegen Heideggers Fundamentalontologie. Er warf Heidegger vor, dass in seiner Philosophie eine Agathologie - also eine Philosophie von Gut und Böse - fehlt, da er nie über die Ebene des Sinnes von Sein hinausgeht. „Heideggers Welt ist perfekt mit Bedeutungen ausgefüllt: eine Bedeutung verweist auf die andere, alles ist 'etwas-im-Hinblickauf-etwas'; alles kommt aus dem Dasein hervor und kehrt zum Dasein zurück. In dieser Welt fehlt jedoch das, was am 'menschlichsten' ist: es gibt kein Zuhause, in welchem das menschliche Gute entsteht, es gibt keinen Tempel, wo der Mensch Gott begegnet, es gibt keinen Friedhof, wo er den Toten begegnet. (...) Vom Gesichtspunkt der reinen Ontologie aus
gesehen bleibt unklar, warum das Dasein im Hinblick auf den Tod in Sorge ist. Sein oder Nichtsein - kommt das nicht aufs Gleiche hinaus? Die Sorge gibt erst dann ihre tiefe Bedeutung frei, wenn wir ihren untersten Grund enthüllen: die Anwesenheit des Bösen.”[24] Die
Agathologie ist die Wurzel der Metaphysik. Dem Dasein geht es in seinem Sein nicht ums Sein, sagt Tischner, sondern um Rechtfertigung, um Erlösung.[25] Die Inspiration zur Polemik gegen Heidegger fand Tischner bei Lévinas. Von ihm übernahm er auch die Inspiration zur Deontologisierung des Guten. Das Gute ist für Lévinas „jenseits des Seins”, und die Logik des Seins unterscheidet sich von der Logik des Guten. Die Verantwortung ist eine Verantwortung für das Böse, das den anderen ereilt. Das Verantwortungsbewusstsein lässt sich jedoch nicht mit Hilfe ontologischer Kategorien erklären. „Seiendes als Seiendes ist nicht für anderes Seiendes verantwortlich. Verantwortung ist dort, wo ein Bewusstsein für Gut und Böse ist”, schreibt Tischner.[26] Andererseits war er vollkommen außerstande, Lévinas' Identifizierung von Sein und Bösem zu akzeptieren. Für Lévinas ist die Existenz als solche böse, denn sie folgt der Logik des Überlebens. Deshalb ist sie auf Rechtfertigung angewiesen. „Lévinas hat nichts dagegen, das Sein der Macht des Manichäismus zu unterstellen”, schreibt Tischner.[27] Sein agathologisches Konzept des Bösen ist daher auch eine Polemik gegen den Standpunkt Lévinas'.
In seiner Agathologie des Bösen hinterfragt Tischner sowohl Thomas' von Aquin privative Auffassung vom Bösen (es existiert nicht, sondern ist ein Mangel an Gutem) als auch die manichäische (es existiert unabhängig vom Guten). Beim Versuch, über diesen unversöhnlichen Gegensatz hinauszukommen, stellt Tischner die These auf, dass das Böse weder ein Nichtsein noch mit dem Sein identisch ist. Was also ist das Böse? Es ist eine Erscheinung. „Unser Standpunkt wahrt die Harmonie mit der klassischen Philosophie des Bösen, die verkündet, dass das Bösen ein Mangel an Sein ist. Denn was ist eine Erscheinung anderes als ein Mangel an Sein, der sich als Sein ausgibt? Andererseits geraten wir ebenso wenig in Widerspruch mit der manichäischen Auffassung, nach welcher das Böse als eigenständiges Seiendes existiert. Möglicherweise existiert es tatsächlich in dieser Weise. Wir
beschränken uns jedoch auf die Untersuchung von Erscheinungen. So haben wir am Ausgangspunkt eine neutrale Haltung eingenommen und uns für keine der beiden zerstrittenen Parteien ausgesprochen.”[28] „Zwischen Sein und Nichtsein gibt es etwas 'Drittes': die Erscheinung, genauer: den trügerischen Anschein. Das Böse, wenn es auch nicht real existiert, 'gibt sich doch den Anschein'.”[29] Tischner schlägt somit vor, von der ontologischen Analyse des Bösen zur phänomenologischen überzugehen. Die Ontologie will das Problem des Bösen auf das Problem des Seins reduzieren. Die ontologische Frage richtet sich auf die Seinsweise des Bösen, während es „der phänomenologischen Fragemethode um das Wesen des Bösen geht, um die Ausleuchtung dieses Phänomens und seine Abgrenzung selbst noch von solchen Phänomenen, mit denen das Böse aufs engste verbunden ist.”[30] Zur Auffassung vom Bösen als trügerischem Anschein gelangte Tischner von der Seite der Wesensbeschreibung des Bösen. Das Böse droht und lockt zugleich. Wäre das Böses etwas Reales, das heißt etwas bereits Verwirklichtes, so könnte es nicht dazu verlocken, es zu verwirklichen. Man kann aber auch nicht sagen, dass das Böse nicht existiere, dann in diesem Falle könnte es niemanden in Schrecken versetzen und niemandem drohen. Daher lässt sich das Problem der Seinsweise des Bösen nicht entscheiden und wir müssen es in der Schwebe belassen. Um dies zu tun, führen wir die Problematik des Bösen in die Sphäre der Phänomenalität zurück. Hier hinein führt uns die Auffassung vom Bösen als Erscheinung. Wir fragen somit nicht mehr nach der Existenz des Bösen, sondern vertreten die These, dass es gegeben ist, das heißt: real erfahren wird. Tischner will also untersuchen, wie das Böse wirkt und wie seine Wesensdynamik in Erscheinung tritt, nicht hingegen, ob und auf welche Weise es existiert.
Das Böse tritt zwar zwischen einem „Ich” und einem „Du” in Erscheinung, jedoch nicht aufgrund des Handelns eines der beiden. Es kann nur deshalb als Handlungsfolge erscheinen, weil es von vornherein möglich ist. Das Böse als Erscheinung erweist sich als der täuschende Anschein, der selbst schon etwas Böses ist. „Das Böse drängt sich zwischen die Menschen und nutzt die Vieldeutigkeit der Gegenstände und Ereignisse aus, jene Vieldeutigkeit, die schon aus der Existenz mehrerer Gesichtspunkte, unter denen ein und dieselbe Sache betrachtet werden kann, hervorgeht.”[31] Das Böse droht und lockt. Tischner ist daher der Ansicht, das es mehrere Möglichkeitsbedingungen für das Phänomen des Bösen gibt. Dies ist, erstens, Leid im Zusammenhang sowohl mit einem bereits vollbrachten als auch mit einem zunächst nur drohenden Bösen. Das Böse bedroht mit dem Tod (hier analysiert Tischner die Herr-Knecht-Beziehung bei Hegel), mit Leiden (die Rede des Großinquisitors bei Dostojewski) und schließlich mit Verdammnis (symbolisiert von Kierkegaards Krankheit zum Tode). Die zweite Möglichkeitsbedingung ist das illusorische Gefühl von Angenehmem und Glück, welches uns das Böse verspricht. Für diese Bedingung ist das Motiv der Täuschung konstitutiv. Diese beiden Möglichkeitsbedingungen enthüllen die Doppelgesichtigkeit des Bösen, das zugleich abstoßend und faszinierend ist. Die dritte und letzte Möglichkeitsbedingung ist die Anwesenheit des anderen Menschen. Das Böse taucht immer im zwischenmenschlichen Bereich auf. Wenn es droht und lockt, so muss es mehr sein als eine gewöhnliche, passive Erscheinung. Der Begriff des täuschenden Anscheins setzt eine gewisse Aktivität und damit auch Subjekthaftigkeit des Bösen voraus. Dieser Umstand verweist uns auch auf das Problem der Existenz des Bösen, ungeachtet Tischners Versuche, es auszuklammern. Tischner selbst erinnert hier an die biblische Erzählung vom Sündenfall. Zwischen Adam und Ewa erhebt sich sowohl die Stimme des Guten (Gottes) als auch die des Bösen (des Dämons). „Existiert dieser Dritte real? Diese Frage bedeutet unaufhörliche Bedrängnis für die Ontologie mit ihrem Glauben, dass nur das wirken kann, was real ist. Der handelnde Mensch unterliegt aber den Einflüssen sowohl dessen, was ist, als auch dessen, was
nicht ist.”[32] Dies ist auch das Wesen des Dramas. „Das Böse besteht darin, dass sich gute Wesen einander entgegenstellen und Feinde werden. Aber was bringt sie gegeneinander auf? Wer? Ein Fatum, eine Blindheit, ein Dämon? (...) Bevor noch das eine Gute zum Gegner des anderen wurde, hatte sich das Böse zwischen sie gedrängt und war zum Grundprinzip der Tragödie geworden.”[33] Anstatt zu fragen: „Was ist?”, sollten wir also fragen: „Wem bzw. welcher Sache leihen wir unser Gehör?”. Tischner bezieht sich auch auf die Metapher des bösartigen Dämons (genius malignus) bei Descartes. „Er ist ein Phänomen, das sich zwischen dem 'Ich' und dem 'Du' einen eigenen Anschein gibt. Wir bringen diesen Anschein mit unseren Blicken hervor, und ein wenig bringt der Anschein uns hervor. Er hat in sich den Spiegel des bösartigen Dämons, der das wirkliche Bild verwischt.”[34] Descartes' bösartiger Dämon herrscht, indem er sich der Täuschung bedient; er hintergeht die Menschen. Das als trügerischer Anschein verstandene Böse birgt Unwahrheit, das heißt Illusion oder Lüge. Es versteckt das Gute außerhalb seiner selbst und hindert den Menschen daran, es zu erreichen. „In dieser Metapher wird das Böse auf ein „Absinken in die Unwahrheit” reduziert. Belogen vom bösartigen Genie, weiß der Mensch nicht, was er tut. Das bösartige Genie wirft den Menschen in eine Dunkelheit, in der sich noch die edelsten Taten in ihr Gegenteil verkehren.”[35] Deshalb - dies sei hier am Rande bemerkt - vertrat Tischner die Ansicht, dass „die Philosophie Descartes' eher in den Kategorien des Dialogs als der Seinsphilosophie zu interpretieren ist.”[36] Dem Wirken des trügerischen Anscheins ist jedoch eine Grenze gesetzt: der Wille. Der Mensch erbost, weil die Möglichkeit des Bösen existiert. Als solcher wird der Mensch aber erst dann böse, wenn er sich diese Möglichkeit zueigen macht. Das Böse braucht
den Menschen, um zu entstehen. „Es vermag den Menschen nicht zu vernichten, wenn nicht der Mensch sich selbst vernichtet. Daher stellt das Böse nicht nur die Vernunft, sondern auch den Willen auf die Probe. Hier enthüllt der trügerische Anschein seine Macht und zugleich Ohnmacht. Seine Ohnmacht deswegen, weil er als trügerischer Anschein allein auf sich gestellt nichts zustandebringt. Doch er zeigt auch seine Macht, denn er kann die im Menschen schlummernden Kräfte ausnutzen und ihn gegen seinen Willen dazu bewegen, sich selbst zu vernichten.”[37]
Die verschiedenen Dimensionen des dialogischen Bösen beschreibt Tischner in seiner Philosophie des Dramas: „Nach Husserls Absicht sollte die Phänomenologie, gestützt auf das ursprüngliche Erfahren des jeweiligen Gegenstands, die Wissenschaft vom Wesen der Erscheinungen sein. Daher muss sie also, um das Wesen des Phänomens des Bösen zu ergründen, die Erfahrung der Begegnung in besonderer Weise berücksichtigen.”[38] Authentische Begegnungen befreien vom Bösen, weil sie das Land unserer Verbannung in ein
gelobtes Land verwandeln. „Die Welt des Menschen ist die Szene seines Dramas. Der Mensch kommt zur Welt, sucht sich in dieser Welt ein Zuhause, errichtet seinem Gott einen Tempel, baut Wege, hat eine Werkstätte, findet die Friedhöfe seiner Vorfahren vor, wo auch er eines Tages ruhen wird. Was bedeutet: die Welt ist die Szene des Dramas? Es bedeutet: die
Art und Weise, wie wir die Welt erfahren, ist untrennbar mit der Art und Weise verbunden, wie wir die Menschen erfahren, vor allem aber mit der Art und Weise, wie wir das Drama von
Mensch und Mensch erleben.”[39] Die Erfahrung des Landes ist also keine unmittelbare, sondern eine durch die Begegnung vermittelte. Erst die Beiderseitigkeit der Begegnung macht
das Land zum gelobten Land. Tischner unterscheidet vier grundlegende Orte des gelobten Landes: Haus, Werkstätte, Tempel und Friedhof. Das Böse macht aus dem Haus ein Versteck,
aus der Werkstätte ein Zwangsarbeitslager, verwüstet den Tempel und verwandelt die Friedhöfe in Orte trügerischen Anscheins.
In seinem Buch Der Streit um die Existenz des Menschen erweitert Tischner sein Konzept des dialogischen - im eigentlichen Sinne antidialogischen - Bösen, wie es in der Agathologie sichtbar wird, um das Konzept des strukturellen Bösen. Bezugspunkt ist hier für Tischner der Kantsche Begriff vom radikalen Bösen. Dieses bedeutet ein Abweichen von Prinzipien und erwächst aus menschlicher Schwäche. Tischner meint jedoch: „Kant wagt sich
nicht bis auf jene Ebene vor, die dem Tun zugrunde liegt. Wir können sie im allgemeinsten Sinne als Ebene der „Teilhabe” menschlichen Daseins an „Strukturen” bezeichnen.”[40] Kant unterschätzte das „Gewicht des Bösen”, das bis in den Bereich der Prinzipien vorzudringen vermag. „Der Mensch der Aufklärung erwies sich als Tänzer, der zwar gut tanzt, jedoch zur falschen Musik. Kant sagte: 'tu deine Pflicht'. Diejenigen, die überzeugt waren 'ihre Pflicht zu tun', fanden sich nachher auf den Anklagebänken der Nürnberger Prozesse wieder.”[41] Voll in Erscheinung trat das strukturelle Böse in den Todeslagern. Hier erlangte es eine neue Qualität. Das Problem ist nicht mehr die Schuld der Tat, sondern die Schuld der Teilhabe. Die neue Qualität des strukturellen Bösen beruht auch darauf, dass es die Möglichkeit eines radikalen Manichäismus aufgezeigt hat. In den Todeslagern überschritt das Böse die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Es war plötzlich mehr als ein Abweichen von Prinzipien, Gesetzesuntreue. Tischner lag immer die Definition Jean Naberts am Herzen: „das Böse ist das Nicht-zu-Rechtfertigende.”[42] Zugleich war er der Meinung, dass die „Unmöglichkeit der Rechtfertigung” den Horizont einer Rationalisierung nicht verschließt. Der rationale Grund des Bösen wurzelt immer in einem noch größeren Bösen, und dessen rationaler Grund in einem nochmals größeren Bösen. „Die Logik der Symptome verweist darauf, dass im 'bösen Menschen' ein 'Dämon' am Werk ist.”[43] Der Dämon ist somit nicht mehr das, was uns droht und lockt, indem es uns das Böse als Gutes darstellt. „Das dämonische Böse erscheint als Wirklichkeit, an der wir Anteil haben. Nicht in dem Sinne, dass wir selbst Dämone wären, sondern dass in unserem Handeln und durch unser Handeln das Phänomen des Dämonischen zu Tage treten kann.”[44] Tischner meint zwar, dass es hier nicht um jene Dämone geht, mit denen sich einst die Theologie beschäftigt hatte. Wenn er jedoch schreibt, dass das Dämonische intelligent sei und ausgewählte Menschen und Orte angreife, verleiht er ihm personalen Charakter. Dabei gelten ihm nicht nur die deutschen Todeslager als Verkörperung des dämonischen Bösen, sondern auch die Strukturen des totalitären sowjetischen Staates mitsamt seinen Lagern. Das Böse erschien dort in Gestalt der Überzeugung, dass man für die höchsten, von der kommunistischen Macht verkörperten Werte die nächstliegenden Werte zu opfern habe. Tischner erinnert an den Fall des 13jährigen Proni Kolybin, der seine Mutter denunzierte, weil sie für ihre hungernden Kinder ein wenig Getreide aus dem Kolchos gestohlen hatte. Tischner schreibt: „Die manichäische Werteverkehrung betrifft auch den Begriff des Heroismus. (...) Man muss den Mut haben, Böses zu tun, damit aus Bösem Gutes entsteht.”[45]
Es gibt somit drei Erscheinungsweisen des Bösen: als axiologisches, agathologisches und strukturelles. Wir wollen jedoch die Frage stellen: Warum gibt es Böses? Wie kann sein Wirken gerechtfertigt werden? Hier betreten wir das Terrain der Theodizee, der Tischner nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmete. Seine Antwort auf die hier gestellte Frage ist nicht neu, sondern aus traditionellen Argumenten aufgebaut: Wir können dem anderen Menschen nicht begegnen, ohne die Möglichkeit des Bösen anzunehmen. Tischner bezieht sich hier auf die Tradition der Erkenntnis durch Negation. „Im Drama stehen Gut und Böse nicht wie im Reich der Begriffe weit voneinander entfernt, sondern sie verschlingen sich ineinander in einer gemeinsamen Zeit, einem gemeinsamen Raum, ein und demselben Menschen. In ihrer Verschlingung bestimmen sie eine wesentliche Perspektive der Geschichtlichkeit des Menschen. Was die Ruhe für den Ton und das Licht für die Farbe ist, das ist das Gute und das
Böse für das menschliche Antlitz.”[46] Der Ton ist unmöglich ohne Ruhe - sollte das Böse möglich sein ohne Gutes? „Das Denken erwacht nicht auf Grund bloßen Sehens dessen, was ist. Es entsteht auch nicht durch eine Intuition, die besagt, dass etwas fehlt oder dass etwas eine Mischung von Sein und Nichtsein ist. Das Denken ist keine einfache Wiederspiegelung eines Sachverhaltes. Das eigentliche Motiv des Denkens - das Motiv, welches das Denken aus
dem Schlaf erweckt - ist die 'Verflechtung der Eigenschaften', die die menschliche Tragik ausmacht.”[47] In solchen Zusammenhängen berief sich Tischner häufig auf Hegels These, dass der Geist seine Wahrheit nur gewinnt, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut und bei ihm verweilt - mit dem Vorbehalt allerdings, dass Tischner an die Stelle des Hegelschen Negativen den Begriff des Tragischen stellt.
Tragisch ist vor allem die Freiheit. Hier stoßen wir auf ein weiteres Motiv für die Antwort auf die Frage: „Warum gibt es das Böse?” In der Philosophie des Dramas ist die Freiheit die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen. „Das Böse geht schon allein mit seinen Drohungen und Verlockungen davon aus, dass im Menschen ein gewisser Freiheitsraum existiert. Je mehr das Böse lockt und droht, um so deutlicher gibt es zu verstehen, dass der Mensch einen Freiraum für Entscheidungen hat, eine Freiheit. Als Gabe wider Willen bringt uns das Böse also die Erfahrung der Freiheit - einer Freiheit, die auf die Probe gestellt wird.”[48] Indem wir die Freiheit als Seinsweise des Guten bestimmen, müssen wir laut Tischner die Möglichkeit des Bösen als Voraussetzung für die Freiheit annehmen. Ist nun die Freiheitserfahrung eine vom Bösen gebrachte Gabe wider Willen, oder ist nicht eher die Möglichkeit des Bösen eine Möglichkeitsbedingung der Freiheit?
Wie auch immer wir versuchen, diese schwierige Frage zu beantworten, eines scheint zweifellos gewiss: Auf die Frage „Warum gibt es das Böse?” kann es keine theodizeale Antwort geben, wenn uns ein Böses gegenübersteht, das weder droht noch lockt, sondern lähmt. Diese Erfahrung scheint Tischners Unterscheidung zwischen Bösem und Unglück aufzuheben. Das Unglück, das Hiob traf, war kein Böses im Tischnerschen Sinne, da es keinen Verursacher hatte. Es war daher kein dialogisches (zwischenmenschliches) Böses. Hiob hatte jedoch seine Auseinandersetzung mit Gott, der dieses Unglück, wenn nicht verursachte, so doch duldete. In der Perspektive der Theodizee, das heißt im Bezug auf Gott, ist auch Unglück Böses. Den Erfahrungen Hiobs widmete Tischner drei kurze Texte. Die beiden ersten sind Einführungen zu Theaterinszenierungen: Das Buch Hiob in der Übersetzung von Czesław Miłosz (1982) und Hiob von Karol Wojtyła (1991). Die hier vorgebrachten Argumente sind traditionell und gänzlich unzufriedenstellend. Im ersten Text sagt Tischner: „Das Buch Hiob handelt von der Treue eines Menschen, der auf die Probe gestellt wird.”[49] Im zweiten Text lesen wir, dass das Leid trotz seiner Unergründlichkeit Situationen schafft, in denen der Glaube des Menschen wächst und zur Reife gelangt.[50] Erst der dritte Text Tischners, der zu seinem Streit um die Existenz des Menschen gehört, ist voller Dramatik. Der von seiner Erfahrung mit dem Bösen (in Tischners Sprache: Unglück) schwer geprüfte Hiob ist eine Monade ohne Fenster. Er ist anders als die anderen, von ihnen getrennt. Auch für Gott ist er dies. Von seinen „Freunden” trennt ihn das Böse, der Verdacht, er habe gesündigt. „Die wirkliche Andersheit kommt aus dem Bösen, aus der Teilhabe am Bösen. So wurde Hiob zu einer verschlossenen Monade. Die Freunde versuchen ihn zu trösten. „Doch je mehr Tröstungen sie anhäufen, um so tiefer wird die Andersheit.”[51] Daher bezeichnet Tischner das Böse als „Antigravitation”. Das Böse stößt alles und alle ab.[52] Hiob führt die Auseinandersetzung jedoch nicht nur mit seinen Freunden, sondern vor allem mit jenem Anderen. „Hiob trägt den Anderen in sich. Er trägt ihn in sich als sein wesentliches Leid. Auf dem Grund des körperlichen Schmerzes, unter einer Schicht, die aus Wunden gewebt ist, am Ursprung des Unglücks, das ihn ereilte, erstreckt sich Er - derjenige, der so sehr anders ist, wie menschliche Wunden und Leiden anders sind. (...) Der Andere ist 'anders', und doch ist er in ihm, in Hiob. Er ist sein ureigenstes Unglück, sein persönlicher Fluch. Der Andere ist ins Innere der Monade vorgedrungen und hat ihre Fenster zugeschlagen. Die Monade ist gar nicht so sehr 'fensterlos', vielmehr sind 'ihre Fenster zugeschlagen'. Der Andere ist der Schmerz, der es nicht erlaubt, sich selbst zu besitzen. Es ist unmöglich, mit dem Anderen zu leben, aber unmöglich ist es auch, ohne den Anderen zu leben.”[53] Deshalb stoßen wir beim Versuch einer Antwort auf die Frage „Warum gibt es das Böse?” an die Grenzen der Phänomenalität. „Warum zeigt sich ihm der Andere in der Verschiedenartigkeit des Schmerzes? Warum erlaubt er nicht dem, der für sich ist, sich mit sich selbst zu versöhnen und er selbst zu sein? Warum ist der Andere gegen Hiob und zwingt Hiob, ein Seiendesgegen-sich-selbst zu sein? Auf diese Fragen gibt es keine Antwort”, schreibt Tischner.[54] Hiob lebt somit an der Grenze zwischen Rache und Schweigen. Auf der einen Seite könnte er Rache nehmen, wie ihm seine Frau zuredet: „Verfluche Gott und stirb”. Auf der anderen Seite erstreckt sich das Schweigen: „Die Fenster der Monaden sind zugeschlagen. Stille. Von Zeit zu Zeit geht durch diese Stille nur eine Klage, die Traurigkeit des Anblicks, die Hoffnungslosigkeit des Grases, das auf dem Weg wächst. Hier war einmal jemand entlang gegangen, um ans Fenster zu klopfen.”[55]
Gibt es irgendeine andere Möglichkeit, nicht nur die zugeschlagenen Fenster der Monade zu öffnen, sondern auch die Verlockung des neuzeitlichen Manichäismus zu überwinden? Der im Titel seines Buches angesprochene Streit um die Existenz des Menschen" ist für Tischner nicht so sehr ein Streit darum, ob nach dem „Tod Gottes” der Mensch noch existiert, als vielmehr darum, wie wir uns von der Herrschaft des Dämons befreien können. Kant, beispielsweise, hielt dafür, dass hierzu nur ein „guter Wille” und die Zusammenarbeit der menschlichen Gemeinschaft vonnöten ist. Tischner meinte, dass der Mensch auf Gnade angewiesen ist. Mit Sicherheit werden wir uns von der Herrschaft des Dämons nicht durch Hohn, den „Tod des Menschen” oder die „Krankheit zum Tode” befreien können. „Hohn ist, auf der moralischen Ebene, eine Erscheinungsform jener Freiheit, die sich die Negation zum Prinzip gemacht hat. Hohn ist eine besondere Art zerstörerischen Gelächters, das das Seiende nicht in seiner Existenz, sondern in seinem Wert zerstört. Damit aber der Hohn wirklich Hohn sei, braucht er Universalität. Weder bei Sokrates noch bei Nietzsche war der Hohn universell. Ein bis zum bitteren Ende konsequenter Hohn würde vor nichts haltmachen und nichts wäre ihm heilig. (...) Wer höhnt, verlockt dazu, die höchsten Werte zu besudeln. Er schlägt vor, den wichtigsten Kampf verloren zu geben, und bietet dafür einen Stolz an, der sich aus einer in ihrer Art einmaligen Kraftprobe nährt.”[56] Der „Tod des Menschen” soll uns nach Tischner davon überzeugen, dass das, was der Mensch getan hat, nicht er getan habe, denn ihn habe es nie gegeben. Der Tod des Menschen ist eine Art von Spiel. „Alles sieht aus, 'als wäre es wirklich', aber nichts ist wirklich. Insbesondere gibt es den Menschen nicht: 'der Mensch ist gestorben', im Sog dessen, was er selbst geschaffen hat. Wenn aber 'der Mensch gestorben' ist, so ist auch die Hölle gestorben und ebenso der Himmel, denn diejenigen, für die sie bereitet wurden, gibt es nicht mehr.”[57] Wie kam es zum Tod des Menschen? Schließlich konnte weder die Dantesche Hölle den Menschen vernichten noch der bösartige Dämon Descartes', weder Kants Ausnahmen von der allgemeingültigen Regel noch der Großinquisitor oder andere Dämonen unserer Zeit. Tischners Auffassung lautet: der Mensch hat sich mit seiner Entdeckung, dass er nicht gut zu sein vermag, selbst vernichtet. Und dann kommt noch Kierkegaards „Krankheit zum Tode” hinzu, der Mangel an Hoffnung jeglicher Art, der Mangel an Hoffnungsgründen. Die „Krankheit zum Tode” ist die Hoffnungslosigkeit angesichts eines unmöglichen Todes. Der Mensch, der als solcher böse ist, macht sich bewusst, dass er kein Recht hat zu existieren, und dennoch existiert. Keine der hier beschriebenen Haltungen gibt Anlass zur Hoffnung auf eine Befreiung von der Macht des Dämons. Tischner interessiert sich vor allem dafür, wie das Böse immer wieder in kleinen Zusammenhängen überwunden werden kann. So, wie das Böse mit dem Fatum verbunden war, ist das Gute mit der Gnade verbunden. „Die Gnade verbindet den einen Menschen mit dem anderen durch die Bande der Teilhabe am Guten.”[58] Den Begriff der Gnade engte Tischner nicht auf seine religiöse Bedeutung ein. Die Gnade hat die Struktur der Gabe, sie ist ein Gut, das einem Menschen von einem anderen Menschen angetragen wird. Die Gabe der Gnade ist selbstlos und richtet sich an eine Freiheit. Der Mensch ist für Tischner ein Wesen, das vor allem der Gnade bedarf und fähig ist, sie anzunehmen. Die Gnade ist ein „Heilmittel gegen das Böse”, das in die Tiefe des Menschen vorgedrungen ist. Das Wort „Heilmittel” - wie jede andere Bezeichnung der Gnade, etwa Offenbarung oder Rechtfertigung - enthüllt uns zugleich das Konzept des Bösen als „Krankheit”, Verblendung oder Verdammnis. „Das Gute ist gnadenreich, das Böse gnadenlos. Die Gnade erklärt, was unerklärbar schien: wie kann in der Welt des Bösen - inmitten der Logik einer als Rache aufgefassten Gegenseitigkeit - das Gute erscheinen?”[59] Die Gnade hat darüber hinaus die Struktur der Hoffnung. Bereits in Tischners frühem Buch Die Welt der menschlichen Hoffnung tauchte ein Motiv auf, das ihn das ganze Leben begleiten sollte und das wir daher als Schlüsselmotiv ansehen dürfen. Hoffnung und Gnade sind identisch. „Wenn der Kern meines Wesens bedroht ist, sucht meine Hoffnung nach Gründen für ein Vertrauen, und sie sucht sie an der Quelle meines Daseins.”[60] Im Horizont der Hoffnung erweist sich die Existenz des Bösen als scheinbare Existenz.[61]
[1] J. Tischner, Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), Kraków 1991, s. 121. Polskojęzyczna wersja tego artykułu ukazała się w: „Horyzonty Wychowania” 2005 nr 4, s. 21-40.
[2] „Böses” wird hier auch das genannt, was im Deutschen häufig als „Übel" wiedergegeben wird („geringeres Übel”, „moralisches Übel”). „Böses” und „Übel” werden im Polnischen einheitlich als „zło” bezeichnet (vgl. das lateinische „malum”).
[3] J. Tischner, Myślenie według wartości (Wertedenken), Kraków 1982.
[4] Ders., Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 109.
[5] Ders., Etyka wartości i nadziei (Die Ethik der Werte und der Hoffnung), Poznań 1982, s. 77.
[9]Spotkanie. Z ks. Józefem Tischnerem rozmawia Anna Karoń-Ostrowska (Begegnung. Mit Józef Tischner spricht Anna Karoń-Ostrowska), Kraków 2003, s. 128.
[10] J. Tischner, Filozofia czŁowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 98.
[14] J. Tischner, Filozofia dramatu (Philosophie des Dramas), Kraków 1998, s. 187. Deutsche Ausgabe: Das menschliche Drama: Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas, übersetzt von Stanisław Dzida, München 1989. Diese Ausgabe stand bei der Übersetzung des vorliegenden Textes leider nicht zur Verfügung.
[15] Ders., Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 16.
[16] Ders., Filozofia dramatu (Philosophie des Dramas), s. 63.
[24] J. Tischner, Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 102.
[25] Ders., Spór o istnienie człowieka (Der Streit um die Existenz des Menschen), Kraków 1998, s. 168.
[26] Ders., Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 111.
[27] Ders., Spotkanie z myślą Lévinasa (Begegnung mit dem Denken Lévinas'), in: E. Lévinas, Etyka inieskończony. Rozmowy z Philipp'em Nemo (Die Ethik und der Unendliche. Gespräche mit Philippe Nemo), Kraków 1991, s. 8.
[28] Ders., Filozofia dramatu (Philosophie des Dramas), s. 299.
[29] Ders., Filozofia człowieka dla duszpasterzy i artystów (Philosophie des Menschen für Seelsorger und Künstler), s. 17.
[30] Ders., Filozofia dramatu (Philosophie des Dramas), s. 176.