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Ewa Kutryś "Von den Irrtümern bei der Wahrheitssuche. Józef Tischners Liebe zum Teater".

Józef Tischner vertrat keine klaren Ansichten zum Theater. In seinen philosophischen Arbeiten sah er es anfangs als Metapher des Lebens und ordnete es dem Elementarbereich des Schönen zu. Er war ja zum Theater gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Mit der Zeit räumte er ihm eine wichtige Stellung in seinem Denken ein und ließ es sich auch in seinem Privatleben "breitmachen". In den folgenden Berichten über Tischner und das Theater werde ich die Theaterkunst eigenmächtig in den Elementarbereich der Wahrheit verschieben. Ich denke, Tischner hätte das ähnlich gesehen, obwohl er sich hierzu nie eindeutig geäußert hat. Beginnen möchte ich mit der Schilderung seiner Begegnungen mit den Studenten unserer Theaterhochschule.
         Tischner hatte zuvor Theologiestudenten unterrichtet und ab 1976 auch Vorlesungen für die Studenten des Instituts für Polnische Philologie der Krakauer Universität gehalten. An unserer Schule begann er 1981 zu unterrichten. Es waren seine ersten Lehrveranstaltungen an einer künstlerischen Hochschule, die Gedankenfreiheit und kreative Freiheit sozusagen im Curriculum anbietet. Das Jahr 1981 war ein schwieriges für Polen, ein wichtiges für unsere Freiheit. Tischners Vorlesungen an unserer kleinen Hochschule zogen von Anfang massenhaft externe Hörer an, was die Verwaltung in Schwierigkeit brachte, und zwar keineswegs nur wegen der knappen Räumlichkeiten. Es entspann sich ein Drama mit Tischner in der Hauptrolle.
         Der damalige Dekan der Fakultät für Regie erdachte gemeinsam mit Tischner eine neue Art von Lehrveranstaltungen für die winzige Gruppe der Regiestudenten. Diese Klasse zählte nur vier bis fünf Studenten, mehr konnten damals nicht immatrikuliert werden. Wichtig ist auch, dass damals ausschließlich Absolventen anderer Studienrichtungen das Regiestudium aufnehmen durften. Es zählte die persönliche Reife der Kandidaten, ihre Erfahrung und ihr Verantwortungsgefühl. Tischners Abenteuer mit dem Theater begann mit diesen Seminaren für Regiestudenten. Er nahm von hier viele Inspirationen für seine „Philosophie des Dramas“ mit. Wir hingegen erhielten Anregungen, wie wir unsere Lehrprogramme und -methoden erweitern konnten. Tischner empfahl u.a. Prof. Władysław Stróżewski, der bei uns Lehrveranstaltungen zur Ästhetik hielt. Weil Tischner zu seiner eigenen Philosophie ein Gegengewicht schaffen wollte, vermittelte er uns Prof. Bronisław Łagowski als Vertreter einer anderen politischen und weltanschaulichen Option, der unsere Regieadepten mit Hobbes, Tocqueville, Machiavelli und Popper bekannt machte. Zur selben Zeit begann auch der Maler Prof. Jerzy Nowosielski bei uns zu unterrichten. Prof. Jacek Bomba führte den Lehrgegenstand „Psychologie und Psychiatrie“ ein. Das war sozusagen der Stoff, aus dem eine neue Kaderschmiede der polnischen Theaterregie entstand. Viele Absolventen begannen ihre Auseinandersetzung mit der Wertewelt eben hier, bei Tischners Dramaturgie-Seminaren.
         Bei den Seminaren wurden Themen besprochen, die Philosophie und Theater gleichermaßen ansprechen. Tischner fühlte sich dadurch immer mehr zum Theater hingezogen. Bald gingen die Studenten dazu über, ihm Autoren, Helden, Dramen und dramatische Situationen vorzuschlagen, die ihnen besonders interessant erschienen. Nolens volens geriet Tischner immer weiter abseits der streng philosophischen Denkwege, auf die er ursprünglich die Studenten zu führen gedachte. Er begann, die Schicksale von Gestalten zu analysieren, mit denen er sich nie zuvor beschäftigt hatte. Ich kann mich an eine Seminarsitzung erinnern, zu der Tischner eine Rosenzweig-Übersetzung mitgebracht hatte. Er analysierte die Situation Abrahams, der daran geht, seinen Sohn zu opfern. Tischner gelangte hier zu seiner These, dass die Beziehung zwischen Mensch und Gott die wichtigste dramatische Situation überhaupt sei. Dem schloss sich eine stürmische Diskussion an: Wie sei dann die Opferung Iphigenies durch Agamemnon zu verstehen? Alle nur denkbaren Varianten und Auslegungen dieses klassischen Motivs wurden ausgeleuchtet.
         Den Organisatoren dieser Konferenz liegt, wie mir scheint, der Dialog zwischen Wissenschaft, Kunst und Glauben besonders am Herzen. In dieser Triade liegt die Kunst in der Mitte, in einem Zwischenraum. Das ist ein guter Ort, nicht nur in strategischer Hinsicht. Wenn die Kunst im Dazwischen steht, so lebt sie nicht im Vakuum. Die Kunst zehrt buchstäblich von Allem, findet überall Nahrung und Stärkung. In unserer Arbeit mit den Studenten schrecken wir nicht davor zurück, das Theater als parasitären Allesfresser zu bezeichnen. Dies muss die Theaterkunst sein, um lebendig und dem Menschen nahe sein zu können. Das Theater muss auch von allem zehren, was Wissenschaft und Glaube ihm überlassen. Tischner hatte ein gutes Gespür für diesen besonderen Ort der Kunst in der Welt. Er verstand die kreative Kraft und die Verzweiflung einer Theaterkunst, die auszieht, um in der Welt das Gute, Wahre und Schöne zu erstreiten. Die Mittel und Wege des Theaters sind freilich andere als jene, die Pater Tischner zuvor gekannt hatte.
         Im Allgemeinen sagt man ja, die Wissenschaft müsse einen Forschungsprozess vorantreiben, sie sei der unendliche Weg zur Wahrheit, und ihr wichtigstes Kriterium hierfür ergebe sich jeweils aus der Art und Weise, wie die Wahrheit aufgefasst werde: jene seit Jahrhunderten angewandte Kategorie, der sich alle Forschungsergebnisse zu unterwerfen haben. Mit der Kunst - insbesondere der Theaterkunst - verhält es sich ähnlich. Das Theater ist der Prozess einer Menschenuntersuchung, ein endloser Weg zur Einsicht. Als wichtigstes Kriterium gilt auch hier die Wahrheit, mit dem Unterschied allerdings, dass sie in der Wissenschaft ganz unpersönlich an die Ergebnisse angelegt wird, während die Wahrheit des Theaters sich immer auf die Person bezieht und, wie auch das Gute und das Böse, eben nicht abstrakt sein darf. Daher gibt es seit jeher Scherereien, etwa, wenn das Theater gewisse Wahrheiten auf die Bühne stellt, die alle Welt - sei es zum Preis der Verlogenheit - unter den Teppich kehren will. Böse Zungen meinen gar, wegen solcher Wahrheiten sei das Theater im Mittelalter aus den Kirchen verbannt worden: War nicht die Szene der Visitatio sepulchrii, in welcher die Weiber auf dem Markt Öle zur Einbalsamierung des vom Kreuz genommenen Leichnams Christi kaufen, allzu wahrhaftig? Im Ernst: Die Theaterleute wissen, dass sie der Wahrheit nicht entkommen. Wie eine breitere Wissensbasis wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, so garantiert im Theater nur die unaufhörliche, in die Breite und Tiefe gehende Suche nach der Wahrheit des Schauspielers und seiner Gegenwart auf der Bühne, dass die Angelegenheit lebendig und dramatisch bleibt.
         Nun kann man sich fragen: Ist auch im Theater die Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit? Was heißt: Übereinstimmung? Ist die Konstruktion bzw. Simulation, als die das Theaterstück auf die Bühne kommt, die Wahrheit, die über ein wirkliches Geschehen auszusprechen ist? Und kann die Wahrheit dem Theater bedrohlich werden - etwa in Form des modischen Authentizitätskults, der oft genug ein falsches So-Tun-als-ob ist? Auf diese Fragen, die sich im Theater immer aufs Neue stellen, gibt es keine endgültigen Antworten. Es gibt die Wahrheit der Bühne (der Welt des Dramas), es gibt die Wahrheit des Schauspielers (der Bühnengestalt), und es gibt schließlich die Wahrheit des Zuschauers, die sich immer stärker bemerkbar macht, und zwar nicht nur durch die Handys. Der Zuschauer ist nämlich derjenige, der die "Wahrheit" dazu herausfordern kann, die Karten auf den Tisch zu legen.
         Seit einigen Jahren beobachten wir im Theater immer häufiger, dass die äußere Wahrheit zur Illusion wird. Der Ansatz, dem Zuschauer eine bestimmte Art der Beziehung zur theatralisch vorgestellten - also illusorischen - Wirklichkeit anzutragen und ihn dort nach Akten schauspielerischer Wahrhaftigkeit suchen zu lassen, dieser Ansatz geht von einer Lüge aus. Krystian Lupa, heute ein wichtiger Theaterkünstler, Absolvent unserer Hochschule und mittlerweile auch Lehrender, unterstreicht in seiner Theaterarbeit, dass er eine neue Beziehung zum Zuschauer aufbauen will. Er will eine Reise in die innere Wahrheit antreten. Lupa ist der Meinung, dass ein Schauspieler, der unaufhörlich seine Gestalt spielt, lügt. Er erweckt die Illusion, dass er, solange er auf der Bühne steht, diese Gestalt sei. In Wirklichkeit nähert er sich aber seiner Gestalt an und entfernt sich immer wieder von ihr, solange er in der willkürlich geschaffenen Welt des jeweiligen Dramas auf der Bühne steht. Der Schauspieler baut Konzentration auf und wieder ab. Dies ist ein Prozess, sagt Lupa, und wenn dieser Prozess, die ständige Spannung zwischen Schauspieler und Gestalt, dem Zuschauer sichtbar gemacht wird, dann entsteht Wahrheit.
         Warum spreche ich so eingehend von der Wahrheit des Theaters? Die Wahrheit faszinierte Tischner am meisten, wenn er mit den Studenten, Theaterleuten und Pädagogen arbeitete und sie sich zu Gesprächspartnern machte. Als Tischner seine Vorlesungen bei uns begann, sprach er von der Wahrheit als philosophischer und religiöser Kategorie in einem Atemzug mit dem Theater als Metapher des Lebens. Er brauchte das Theater, um zu philosophieren, sagten die Teilnehmer seiner Lehrveranstaltungen privat. Hier wurde erfahrbar, dass das Theater
„nicht nur lehrt, die Wahrheit zu ehren, sondern auch die Lüge zu erkennen,
nicht nur lehrt, zu lieben, sondern auch zu hassen,
nicht nur lehrt, zu respektieren, sondern auch zu verachten,
nicht nur lehrt, zuzustimmen, sondern auch sich zu empören,
nicht nur lehrt, zu gehorchen, sondern auch den Aufstand zu proben!“
         Aus diesem Grund werden im Theater die negativen Emotionen zumeist nicht unterdrückt, sondern verstärkt. Auf der Bühne entfacht sich ein höllisches Geschehen aus Trieben, Begierden und dunklen Phantasien. Das bedeutet nicht, dass das Theater nicht an die Wesensgüte des Menschen glauben wollte. Das Theater glaubt aber, dass es die Schönheit des Menschentums eben durch die Konfrontation mit den dunklen Seiten des Menschen erkennen kann.
         Zwei Zitate seien mir gestattet. Das erste stammt aus der Autobiographie Andrzej Wajdas, der, wie er erzählt, eines Tages an Jerzy Grotowski die Frage richtete, wonach dessen Theater Laboratorium in Wirklichkeit suche. Die Antwort lautete: „Unsere Existenz und unsere Zukunft als Theater hängen davon ab, ob wir aus dem Dunkel ins Helle gelangen.“ Wajda kommentierte später: „Grotowski hatte verstanden, dass wir alle instinktiv ins Helle wollen und dass gerade das Theater als Spiegel von Zeit und Seele diese Helligkeit auch tatsächlich erreichen muss.“ Das zweite Zitat kennen wohl alle hier Anwesenden, auch Tischner kannte es. Leszek Kołakowski schrieb während eines Aufenthalts in Maisson Lafitte in einem Brief an den Maler Józef Czapski: „Leibniz versuchte in einer großangelegten Theodizee zu beweisen, dass, hätte Gott die Welt ohne Böses und Sünde geschaffen, diese Welt von seelenlosen Automaten bewohnt wäre; da Gott aber wollte, dass wir frei sind, musste er zulassen, dass wir Böses tun.“
         Bevor Tischner die Zwänge des Theaterlebens am eigenen Leib erfuhr - das Sich-Hindurchkämpfen durch das Böse und Hässliche, um zum Guten und Schönen vorzudringen - las er mit Regiestudenten Romane und Bühnenstücke, die seinem eigenen philosophischen und seelsorgerischen Verständnis des Dramas der Welt entsprachen. Die Worte, die er damals schrieb, sind uns im Gedächtnis geblieben: „Die Person erlebt im eigentlichen Sinn nur ein einziges Drama, nämlich das Drama des Menschen mit Gott. Jedes andere Drama und jeder andere Handlungsfaden ist nicht mehr als bloß ein Teil dieses eigentlichen Dramas." Tischner bestärkte seine Studenten in ihrem Interesse an biblischen Gestalten, mit konkreten Folgen für das Theaterrepertoir späterer Jahre. Allein rund um Hiob, der bei Tischners Seminaren eingehend besprochen wurde, entstanden drei Inszenierungen. Krzysztof Babicki arbeitete 1981 am Krakauer Słowacki-Theater auf der Grundlage eines Textes von Czesław Miłosz und im Folgejahr am Danziger Theater der Küste (Teatr Wybrzeże). Bogdan Ciosek inszenierte 1992 den Hiob von Karol Wojtyła im Dramatischen Theater (Teatr Dramatyczny) in Katowice. Tischner schrieb einen kurzen Kommentar zum Text des damaligen Papstes: „Wojtyłas Text wurde als 'Drama' bezeichnet, ohne ein Drama im üblichen Wortsinn zu sein. Eher sollten wir von 'dramatischen Gedankengängen' entlang und anhand biblischer Bilder sprechen. Alles beginnt so wie in der bekannten Geschichte von Hiob. Doch die Landschaft verändert sich, zum Alten tritt das Neue Testament hinzu. Es verliert sich die Grenze zwischen demjenigen, der Ankündigung war, und demjenigen, der Erfüllung wurde. Immer deutlicher wird eine prinzipielle Richtungsweisung: Das Leid besitzt erlösende, rechtfertigende, befreiende Kraft. Ist ein solches Drama heute verständlich? Nicht für alle. Wohl aber für diejenigen, die mit dem Leid zurechtkommen (müssen). Wenn der Schmerz kommt und nach dem Namen des Menschen fragt, muss der Mensch imstande sein, seinen Namen zu nennen. Nicht nur dies; er muss auch wissen, für wen er leidet.“ Die Hiob-Inszenierungen seiner Schüler waren in ihrer Klarheit so, wie Tischner den Menschen sah: befangen in einem Drama, das, gerade im Falle Hiobs, eine „Treueprüfung“ ist.
         Auf Tischners Inspirationen ging auch die Inszenierung von Calderons Großem Welttheater 1986 in Zakopane zurück, für die Tischners Student Andrzej Dziuk verantwortlich zeichnete. Das Programmheft enthielt einen Artikel Tischners. Auch als Calderons Stück 1990 von Bogdan Ciosek in Rzeszów inszeniert wurde, verfasste Tischner einen Kommentar. Calderons Stück trug hier die Überschrift: Das Leben ist ein Traum... Tischner ging hier der Frage nach: Ist das Leben ein Traum? „Ein seltsames Stück“, schrieb Tischner, „aus seltsamer Feder. Man fragt sich: Wer ist sein Adressat? Ich antworte ohne Umschweife: Adressat ist jeder, der seine Erfahrungen mit der Welt der Täuschungen, Illusionen und Lügen gemacht hat oder macht. Hast nicht auch du, lieber Leser, Augenblicke und Orte erfahren, wo es keine Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit gibt? Mach mir nicht weis, dass dir das fremd wäre. Gerade haben wir ein totalitäres Regime hinter uns, das nicht weniger mit Gewalt als mit Lügen über die Menschen herrschte. Wir wussten, dass man uns belog. Wir wussten nur nicht, wie weit das ging. Wir verfielen in Unsicherheit und bewegten uns in einer Welt, die eine Traumwelt war. Ich darf also folgern: Calderon de la Barca schrieb sein Stück Das Leben ist ein Traum... für dich.“ Tischner fährt fort: „Werfen wir einen Blick in Calderons Welt. Die Menschen sind verkleidet. Jeder gibt vor, ein anderer zu sein. Niemand ist, wer er zu sein vorgibt. Der Gefangene ist kein Gefangener, sondern ein Fürst. Der junge Mann mit dem Florett ist ein Mädchen. Der Vater ist der Foltermeister seines Sohnes. Jeder trägt Unglück in seiner Seele und muss so tun, als wäre er ein anderer. Überall herrscht Furcht vor Unbestimmtem. Was soll das alles bedeuten? Nun, die Welt wird regiert von etwas Verborgenem: einem bösen Schicksal, grausamen Fatum, einer bösartigen Prädestination. Mitten durch die Menschen geht ein Riss. Es gibt keine Begegnung mehr. Wer könnte einem auch begegnen, wem wollte man begegnen? Nicht einmal sich selbst kann man mehr begegnen. (...) Was ist zu tun, um das Böse zu überwinden? Zunächst und vor allem ist zu erkennen, dass das Böse in Wahrheit nicht existiert, dass eine Illusion ist, ein Schatten, ein Traumbild oder, wie die Philosophen sagen: ein Mangel an Sein. (...) Die Geschichte braucht ihre Zeugen. Wir verstehen die Geschichte und empfinden Achtung vor Menschen, die zu auserwählten Zeugen der Geschichte wurden. Ob sie nun von Gutem oder Bösem zeugen - ihr Leben hat einen Sinn. Mitleid empfinden wir mit den Menschen, die sich auf keine Seite schlagen konnten und sozusagen als Cappricio der Existenz herumlaufen. Mitleid. Vielleicht auch deswegen, weil wir selbst ein solches Cappricio sind?“
         Bitte sehen Sie mir das lange Zitat nach. Ich habe es angeführt, weil es Ihnen wahrscheinlich unbekannt war. Es zeigt in nuce, wie Tischner das Theater wahrnahm und seine Funktion verstand. Er nahm es ernst als Instrument einer Wirklichkeitsbeschreibung und, wie mir scheint, Wirklichkeitsverbesserung, bei der auch der Mensch verbessert würde. Deutlich genug sind die Bezüge zur aktuellen Situation Polens nach dem Systemwechsel 1989, als wir an den ersten bitteren Früchte der Freiheit zu kauen hatten. Dabei klingt das Echo eines Textes von 1977 an, Die Menschen aus dem Versteck, in welchem Tischner nach Auswegen aus der Angst gesucht hatte.
         Bis heute fehlt mir das Wissen über eventuelle andere Texte Tischners zu bestimmten Inszenierungen. Das müsste untersucht werden, und es wäre nicht einfach. Vieles ist nur in den Erinnerungen der Beteiligten bewahrt, anderes müsste aus den Archiven polnischer Theater hervorgeholt werden. Wir wissen aber, dass Tischner die Projekte unserer Regieabsolventen auch unterstützte, indem er einfach die Vorstellung besuchte und nachher über das Gesehene diskutierte.
         Im Krakauer Alten Theater (Teatr Stary) kam Tischner zu drei Inszenierungen des bereits erwähnten Krzysztof Babicki, eines seiner Studenten, dem er 1986 drei Stipendienmonate im Institut für Christliche Kultur in Rom ermöglicht hatte. Babicki spricht noch heute davon, wie nachhaltig Tischner seine Kreativität angeregt hatte. Die drei inszenierten Stücke waren: Passolinis Affabulazione (1985), Micińskis Die polnische Thermopylen (1986) und Strindbergs Nach Damaskus. Bei den Thermopylen half Tischner dem Regisseur auch in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Zensur. Sie verlangte, russophob klingende Sätze zu streichen, und Tischner schlug dem Regisseur vor, diese Sätze eben russisch zu sprechen. Das Stück wurde nach der ersten Vorstellung abgesetzt.
         Damals wurde Tischner wohl nicht zum ersten Mal bewusst, welche Kraft im Theater steckt, wenn es den Dialog mit den Menschen führt. Schon 1969 hatte er, angeregt durch Wyspiańskis Drama Hochzeit (Wesele) in der Regie von Lidia Zamkowa, einen seiner wichtigsten Texte geschrieben: Der Schattentanz der polnischen Melancholie (Chochoł sarmackiej melancholii). Damit trat Tischner in die Debatte zur polnischen Identität ein. Es ging um Patriotismus und darum, wie der einzelne Mensch von seiner Situation hervorgebracht und zugleich eingeschlossen wird. Die Probleme, die Wyspiański in seinem Stück berührt, wurden auch bei Tischners Seminaren besprochen: Wie groß ist doch in Polen die Idee und wie klein der Mensch! Tischner sprach mit einiger Bitterkeit vom geringen menschlichen Format des Bauern Jaś, der in Wyspiańskis Stück das goldene Horn - eine Art Graal - verloren hatte. Für Tischner war, anders als für die Studenten, die Situation dieses Bauern keine dramatische: Hier liege nichts anderes vor, so Tischner, als törichte Vergesslichkeit.
         Tischner besuchte fast alle Inszenierungen des Witkacy-Theaters in Zakopane. Wider Willen nahm er an einem theatralischen Geschehen teil, das seinen Lauf nahm, als der Vorhang schon gefallen war: Die auf dem Friedhof von Zakopane unter seiner priesterlichen Leitung bestatteten sterblichen Überreste Witkacys gehörten, wie sich später herausstellte, einem jungen Mädchen.
         Und es gab noch ein Theaterhaus, dem Tischner als Fan die Treue hielt, obwohl es weit von Krakau entfernt lag: das Stettiner Theater der Gegenwart (Teatr Współczesny) mit seiner Direktorin Anna Augustynowicz. Anna gehörte zu Tischners Lieblingsstudierenden. Sie, die als Schülerin oft mit Tischner stritt, ist ihm in ihrer Aufrichtigkeit und ihrem Verantwortungsgefühl als Theaterfrau bis heute besonders treu geblieben. Vor etwa fünf Jahren sagte sie in einem Interview: „Wenn ich neue Stücke lese mit ihrer ganzen schmutzigen Grausamkeit, entsetze ich mich darüber, wie wenig sich in den Schicksalen der Menschen seit der Zeit der Labdakiden geändert hat. Und ich frage mich: Warum sollten wir schon wieder durch all das Böse waten und noch die Zuschauer hineinziehen? Dann aber sage ich mir: Wir müssen uns selbst in der Spannung von Gut und Böse erkennen, um durch das Böse hindurchzukommen, um nicht in ihm steckenzubleiben.“
         In der Frage von Anna Augustynowicz klingt ganz deutlich Tischners Frage an: Warum sollen wir durch das Böse waten, da es doch das Gute gibt? Tischner hatte, wie gesagt, einige Zeit gebraucht, um dem Theater Recht zu geben, wenn es sich in Dunkel, Schmutz und Grausamkeit suhlt. Er ging diesen Weg gemeinsam mit seinen Schülern und Freunden aus der Theaterwelt, die bei ihrer Ergründung der conditio des heutigen Menschen mit diesem ins Dunkel eintauchen müssen, um das Helle zu finden. Tischner war nicht nur mit den Studenten der Theaterhochschule gut bekannt, sondern auch mit vielen der besten Schauspieler der Krakauer Theaterhäuser. Mit mehreren war er befreundet, etwa mit Jerzy Trela, Anna Polona, Jerzy Stuhr, Jerzy Goliński und Jerzy Radziwiłowicz. Tischner stand unter dem Eindruck der Trauung von Gombrowicz, die Jerzy Jarocki 1990 im Alten Theater inszeniert hatte. Radziwiłowicz spielte hier den Henryk, der „eine neue menschliche Freiheit erringen“ wollte. Tischner analysierte diese Gestalt bei seinen Seminaren und, später, im Kapitel Der Tod des Menschen seines Buches Der Streit um die Existenz des Menschen. Henryk und sein Drama waren für Tischner, wie das gesamte Werk Gombrowicz', äußerst wichtig. Als ich 1999 in Krakau die öffentliche Vorstellung dieses Buches vorbereitete, wollte ich einige der Dramengestalten auf der Bühne auftreten lassen. Tischner war daran interessiert, dass Henryk einen Teil seines Monologs rezitiert. Obwohl Tischner damals bereits seine zweite Operation in London hinter sich hatte, erschien er zur Buchvorstellung. Unglücklicherweise aber musste Radziwiłowcz an diesem Tag in Warschau auftreten und konnte den Henryk nicht spielen.
         Von den Autoren und Texten, die Tischner analysierte, seien der Ordnung halber erwähnt: Dostojewskis Schuld und Sühne, Die Dämonen, Die Brüder Karamasow, Shakespeares Richard III, König Lear, Molières Don Juan, Goethes Faust sowie Ödipus und Antigone von Sophokles. Als Zuschauer sah Tischner 1993 das Stück Der Vorgesetzte (Naczelny, nach Prosa von Stieg Larsson) in der Regie von Anna Augustynowicz, was insofern bemerkenswert ist, als er anschließend an einer öffentlichen Diskussion teilnahm. Eine Videoaufnahme belegt, dass es Tischner keineswegs leicht fiel, zum Thema sexueller Gewalt von Männern gegenüber Frauen zu sprechen, darüber, wie sich das seltsame Dreieck zwischen dem Vorgesetzten, seinem Angestellten und dessen Frau zu einer oppressiven Struktur auswächst. Tischner fühlte sich unwohl, klammerte seine Hände an das Brillenetui, versuchte den Moment hinauszuzögern, da er etwas sagen müsste zu dem ethischen Drama, das sich gerade in einem Bett auf der Bühne abgespielt hatte. Das war nicht sein Theater. Solche Helden waren seiner Analyse nicht zugänglich. Schließlich sagte Tischner mit entwaffnender Offenheit: „Wenn ich unter diese Menschen geraten würde, wüsste ich nicht, was ich ihnen zu sagen hätte.“ Die Aufnahme zeigt auch die Bescheidenheit und Empfindsamkeit Tischners beim Eintritt in die szenische Dimension der Welt. Er wusste, dass er sich auf fremdem Territorium befand; dass seine Perspektive und seine Beschreibung des Bühnengeschehens eine andere war, eingeschlossen in die Sprache und Erfahrung seines Berufes; dass ihm mitunter die Instrumente für anatomische Untersuchungen fehlten. Es mag paradox klingen, aber in solchen Situationen half es ihm, dass er Priester war. So brachte er auf die ihm eigene bescheidene Art Zweifel vor, die ihn bereits vor dem Besuch der Vorstellung geplagt hatten: „Wenn der Philosoph vor einem Kunstwerk steht, kommt er sich vor wie ein Chirurg (...), geradezu wie ein Schlächter: Er muss einen sauberen Schnitt hinbekommen! Hier geht es um ein Kunstwerk, das seine eigene Sprache, seine eigene Problematik, seine eigene Symbolik und seine eigenen unausgesprochenen Aspekte hat. Da kommt nun der Philosoph daher und beginnt, mit einer Rasierklinge am Kunstwerk herumzuschneiden: ein wahrer Barbar. Ich bin hier der Barbar. Jedenfalls bin ich keine Autorität.“
         Noch ein zweites Mal besuchte Tischner eine Vorstellung des dunklen, weder Schönes noch Gutes ausstrahlenden Theaters: Brechts Baal, ein Gastspiel des Warschauer Allgemeinen Theaters (Teatr Powszechny) in Krakau. Ich begleitete ihn. Janusz Gajos spielte grandios den Baal: einen Mensch, der schamlos das Leben in sich reinfrisst. Tischner versank in seinem Sitz, wohl aus Scham darüber, hier zuzuschauen wie ein Voyeur, und schien nach Fluchtwegen Ausschau zu halten. Nach der Vorstellung sprach er ganz gegen seine Gewohnheit kein Wort. Wir gingen schweigend einige Minuten in dieselbe Richtung. Plötzlich sagte er, wie zum Abschied: „Das Böse kann faszinierend sein.“
         Ich zitiere diese Aussage in der Öffentlichkeit, weil ich Verständnis und Respekt aus ihr heraushöre - für die Anstrengungen des Theaters auf dem Weg zur Wahrheit über den Menschen. Das Theater will ja Ähnliches wie Wissenschaft und Glaube. Deshalb greift es verzweifelt alles auf, was ihm über den Weg läuft. Es verhält sich wie ein „moderner Mystiker“. Es zehrt von Magie, buntem Zeitvertreib, Medizin und Psychologie, politischen Machtspielen und Manipulationen, Schöpferwillen und Religion. Das Theater verwendet Technologien, verabscheut aber die Logik. Aus der Wissenschaft nimmt es gerade soviel, als es braucht, um eine Theorie seiner selbst zu haben. Es lebt, indem es schöpferisch ist. All das sah Tischner bei uns, ließ sich anziehen und faszinieren. Er sah, dass der Schauspieler den Menschen in seiner Größe und Kleingeisterei wie durch ein Vergrößerungsglas zeigt, dass Krisen und Konflikte auf der Bühne dichter, reicher und dramatischer sind und daher schmerzhafter berühren können. Wenn Tischner so oft von der kathartischen Funktion des Theaters sprach, wusste er bestens, worum es ging. Er konnte sich auch davon überzeugen, dass im Theater eine unaufhörliche Diskussion über Werte geführt wird, dass man sich an der Frage abarbeitet, wie in diesem Jammertal des Bösen, der Selbstgefälligkeit und der Unmoral zu leben sei, dass wir schließlich - am Ende der großen Dramen und Tragödien - gemeinsam hoffen, der Mensch möge sich durch die Treue zu seinen Werten erneuern.
         Abschließend kurz zu zwei Stichwörtern, die im Hinblick auf Werte und Treue fallen müssen: Verantwortung und Liebe.
         Alles hier Gesagte betrifft das Theater als eine verantwortungsvolle Kunst, die von verantwortungsvollen, ihrer Pflichten eingedenk handelnden Menschen gemacht wird. Das heißt freilich nicht, dass sich diese Menschen nicht mitunter von ihrer Leidenschaft an die Grenzen des Wahnsinns treiben ließen.
         Zur Liebe sei nur soviel gesagt, dass ohne sie kein Theater zu haben ist. Die Theaterkunst erwächst aus der Liebe, aus der Sorge um den Menschen. Auch die widerlichste Bühnenfigur wird nicht abgelehnt oder verurteilt. Im Gegenteil, das Theater steckt bereitwillig Schläge dafür ein, dass es solche Menschen zeigt und auch noch verteidigt. Alle Texte, die für das Theater wichtig sind, verteidigen den Menschen, begegnen ihm voller Mitleid und Liebe auch dann, wenn er abgrundtief gesunken ist. Menschenliebe gibt es, einem Tischnerschen Diktum zum Trotz, auch in den Texten Samuel Becketts. Seiner Magistrandin sagte Tischner einmal, Beckett habe eine Welt ohne Liebe geschaffen. Und er ließ sich um Nichts in der Welt vom Gegenteil überzeugen. Aber das wäre ein Thema für einen anderen Vortrag.


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